Lloyd Jones: "Mister Pip"


Matilda lebt auf Bougainville, einer Insel im pazifischen Ozean, in der Dorfgemeinschaft allein mit ihrer Mutter, denn ihr Vater ist bereits vor Jahren "zu den Weißen gegangen". Glaubt Matilda ihrer Mutter, so ist der Vater wegen der besseren Arbeit gegangen. Schickte er zunächst immer Güter, brach der Kontakt irgendwann ab. Matildas Mutter ist traurig, aber vor allem verbittert. Die streng gläubige Frau kann nicht verzeihen, dass ihr Mann sich auf die weißen Männer eingelassen und nach und nach "einer von denen" geworden ist.

Bougainville wird neuerdings jedoch von ganz anderen Problemen behelligt. Einige Zeit nach der Schließung der großen Kupfermine war es zu einem Bürgerkrieg gekommen, und auch die Menschen in Matildas Dorf müssen sich seither fürchten. Jederzeit kann das Dorf gestürmt werden, die Angst vor Zerstörung, Vergewaltigung und Tod ist allgegenwärtig.

In dieser schweren Zeit, die Matilda in ihrem Ausmaß nur erahnen kann, droht der Alltag an Gewicht zu verlieren. Viele Menschen sind bereits geflohen, und auch der Schulbetrieb findet nicht mehr statt. Eines Tages jedoch bekommen die Kinder einen neuen Lehrer: Mr. Watts. Der kauzige einzige Weiße im Dorf wird von allen auf Grund seiner hervorstehenden Augen nur "Pop Eye" genannt, und mit Staunen und Lachen haben die Kinder bislang beobachtet, wie dieser Mann, manchmal mit aufgesetzter Clownsnase, seine Frau Grace, die schon im Dorf aufgewachsen ist, mit einem Karren durch die Gegend zieht. Skurril ist ein Wort, das die Menschen des Dorfes nicht kennen, und doch trifft es auf ihre Einschätzung von Mr. Watts zu. Und dieser Mr. Watts soll sie fortan unterrichten? Die Kinder sind skeptisch.

Mr. Watts aber schlägt sie rasch in Bann. Er verzaubert sie mit einem Roman: "Große Erwartungen" von Dickens. Dieses Buch, die Geschichte rund um Pip, beschäftigt die Kinder zwei Monate lang. Jeden Tag bekommen sie ein Kapitel vorgelesen und entdecken somit eine Welt, die ihnen bislang fremd war. Doch darüber hinaus entdecken sie noch vieles mehr: die Verbundenheit, die man mit fiktiven Personen empfinden kann, und die Bedeutung des eigenen Ichs, von getroffenen Entscheidungen.

Eines Tages holt der Bürgerkrieg das Dorf jedoch ein und schlägt mit aller Wucht mitten in die neu entdeckte Welt ...

Bouganville ist ein ungewöhnlicher Schauplatz für einen Roman, und weil die Geschichte rund um die Kupfermine und den Bürgerkrieg vielen unbekannt sein dürfte, glaubt man lange Zeit, nicht den richtigen Zugang zum Buch zu finden. Letztlich ist es jedoch eben diese Unkenntnis, die genau das Gegenteil bewirkt. Kennt man die Ereignisse und deren Entwicklung nicht, so kann man sich all dem durch die Augen Matildas nähern, eines Mädchens, das noch ein Kind ist und völlig fern von jeder Globalisierung.

Ein Lehrer, der seine Schüler begeistert, um ihnen darüberhinaus Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen, und Persönlichkeiten formt, solche Geschichten gibt es hingegen nicht allzu selten. Das Besondere an "Mister Pip" ist jedoch, dass Mr. Watts nicht über den Dingen steht, keinen besseren Menschen verkörpert, als andere es sind.

Spätestens nach dem Beginn des Unterrichts durch Mr. Watts beginnt das Buch, seine starke Emotionalität zu entfalten. Dies geschieht langsam, immer wieder unterbrochen von anderen Ereignissen und der Schlichtheit und auch dem Pragmatismus der Dorfbewohner, und doch hat die Geschichte eine sehr tiefgreifende Wirkung.
Sie ist fesselnd, bringt einen zum Lächeln, zum Träumen, zum Nachdenken. Vieles ist philosophisch, und kaum hat man es bemerkt, ist man dem Sog des Buches erlegen.
Das ist gut; das ist, was man von einem wirklich guten Buch erwartet, aber es hat auch eine Kehrseite. "Mister Pip" ist keine leichte Unterhaltungslektüre, es ist kein Buch zum Träumen, sondern letztlich eine herzzerreißende Geschichte (wie auch Isabel Allende über das Buch sagte), die auch hartgesottene Leser zu Tränen rührt.

(Tanja Thome)


Lloyd Jones: "Mister Pip"
(Originaltitel "Mister Pip")
Übersetzt von Grete Osterwald.
Rowohlt, 2009. 283 Seiten.
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Lloyd Jones, geboren am 23. März 1955 in Lower Hutt, Neuseeland, hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht und gehört zu den namhaften, vielfach preisgekrönten Autoren seiner Heimat. Sein Roman "Mister Pip" wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt, mit Hugh Laurie verfilmt, mit dem "Commonwealth Writers’ Prize" ausgezeichnet, und er stand auf der Kandidatenliste des "Booker Prize" 2007.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Geschichte der Stille. Eine Spurensuche in Neuseeland"

Ein faszinierendes Buch über Neuseeland, die vom Erdbeben zerstörte Stadt Christchurch, eine Einwandererfamilie aus Europa, über Lloyd Jones selbst.
Nach dem schweren Erdbeben, das Christchurch im Februar 2011 nahezu in Schutt und Asche legte, fährt Lloyd Jones in die zerstörte Stadt. Er hört der Stille nach, die auf ein Beben folgt, und lässt sich von ihr leiten.
Die Betrachtung der Stadt wird immer mehr zu einer Spurensuche und Selbsterforschung - als wären mit den verheerenden Erdstößen erst die Brüche und Lücken in Jones' eigener Familiengeschichte erkennbar geworden. Seine Großeltern hat er nie kennengelernt, die Mutter wollte es nicht. Denn ihre Mutter hatte sie als Kind weggegeben, um einem Mann zu folgen, und das hat sie nie überwunden. In der Familie wurde darüber geschwiegen. Und über so manches Andere auch. Wie viel leichter wäre seine Jugend gewesen, stellt Lloyd Jones auf seiner Spurensuche fest, wenn man stattdessen geredet hätte. Sein Buch ist ein Plädoyer für Offenheit und für das Niederreißen von familiären Tabus.
Nachdem er das Hinterland von Christchurch erkundet hat, reist Lloyd Jones weiter, übers Meer nach Pembroke Dock in Wales. Von dort sind seine Urgroßmutter und sein Großvater zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgebrochen, um ein neues Leben auf dem fernen Kontinent zu beginnen. Was haben sich die Auswanderer erhofft? Konnte das raue Leben in Neuseeland ihren Träumen gerecht werden?
Dieses feinfühlige Buch verbindet Familiengeschichte und Landesgeschichte auf gekonnte Weise. Die Mythen von Auswanderung und Eroberung einer fremden Welt vermischen sich mit literarischer Selbsterkundung. Es ist das bislang persönlichste Buch von Lloyd Jones, in dem er seinen Wurzeln nachgeht und aufzeigt, wie wichtig für uns alle das Wissen um unsere Herkunft ist. (Rowohlt) zur Rezension ...
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