Carsten Jensen: "Wir Ertrunkenen"
Wenn
Literaturwissenschafter Bücher schreiben, geht man diese gerne
sehr vorsichtig an. Denn häufig erlebt man dann einen
Akademiker, der in erster Linie für Akademiker geschrieben
hat. Aber Carsten Jensen hat früh aus dem akademischen ins
journalistische Fach gewechselt und ist in diesem in seiner
dänischen Heimat bereits seit Mitte der 1990er-Jahre ziemlich
erfolgreich. Der vorliegende Roman ist sein Dritter und der erste, mit
dem er sich der internationalen Kritikerschar stellt.
Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 1948 im dänischen
Hafenort Marstal, der in den folgenden Jahrzehnten viele Schiffe und
Mannschaften auf die Weltmeere schicken sollte. Noch genauer beginnt es
mit den Auseinandersetzungen zwischen den dänischen und den
deutschen Flotten, in deren Verlauf ein Marstaler namens Laurids
Madsen, der schon immer die Position eines Schelms im Ort hatte, von
einer Explosion emporgeschleudert wird, um dann wieder auf den leicht
angekokelten Holzsohlen seiner Stiefel auf dem Deck zu landen.
Schelmenhaft bemerkt er, dass er dort oben das Gesäß
des Petrus gesehen habe. Irgendwann verschwindet er dann nach einer
Heuer auf einer Großen Fahrt ganz aus dem Gesichtsfeld seiner
Familie und hinterlässt dabei Frau und Kind - sowie die
Stiefel.
Nach einer von Gewalt regierten Kindheit, die man sich heutzutage bei
allen Berichten über Jugendkriminalität und auch
Brutalität Erwachsener - hier eines Lehrers -
gegenüber
Kindern kaum vorstellen kann, findet sein Sohn
Albert schließlich seine erste Heuer und beginnt die Meere zu
erkunden - auch um mehr über das Schicksal seines Vaters zu
erfahren und mit diesem Wissen seine Mutter zu beruhigen. Die Stiefel
seines Vaters beginnt er dabei mehr und mehr auszufüllen. Und
als er von seiner Reise zurückkehrt, ist er ein merklich
anderer Mensch, der für seinen Ort viel bewirkt. Und so
gelingt es ihm, Marstal aus der Zeit der Segelschifffahrt über
das Dampf- in das Motorschiffzeitalter zu führen.
Doch nicht alle sind von dieser Entwicklung begeistert, und so beginnt
- um die Seele eines Kindes kreisend - ein Kampf um das Fortbestehen
der Stadt Marstal als eine Hochburg der Seefahrt, der erst in der Mitte
des 20. Jahrhunderts, mit der Kapitulation des Deutschen Reichs, sein
Ende finden soll.
Das Leben um das und mit dem Meer unterfüttert die Handlung,
in deren Mittelpunkt jene Frauen und Männer stehen, die dieses
Leben führen und bei allem Leid, das sie dabei erfahren, nicht
davon lassen können. Dabei werden die Entwicklungen der
Schiffe
genauso reflektiert wie die Entwicklung des Lebens auf See, des
Seerechts und der Frage, was es bedeutet, auf See Krieg zu
führen - angefangen bei Segelschiffen, die sich Duelle mit
Küstenbatterien liefern, bis zu Konvoischiffen, die sich mit
Sturzkampfbombern, U-Booten und Schlachtschiffen auseinandersetzen
müssen. Dabei wird auch die Veränderung der
Kriegsführung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg
deutlich. Wer hier heldenhaften Kriegermut sucht, der wird
enttäuscht werden, denn die Zustände bei solchen
Auseinadersetzungen waren immer elendig und werden es wohl auch immer
bleiben.
Die jeweilige Sprache der vier Großkapitel des Buches passt
sich zunehmend der Zeit der Handlung an. Während Menschen und
der Erzählstil zu Beginn gut in die Literatur des 19.
Jahrhunderts passen, entwickelt sich die Sprache im Verlauf des Buches
genauso, wie die Schiffe und Marstal selbst. Dies liegt auch daran,
dass die Menschen selbst erzählen, denn das "Wir" im Titel ist
durchaus wörtlich zu nehmen.
Wichtig wäre hier auch noch zu sehen, dass der Leser nicht nur
auf Marstal konzentriert wird, sondern auch mit den wichtigsten
Handlungsträgern auf große Fahrt geht und einen sehr
intimen Einblick in die gesamte befahrene Welt bekommen, ob von der
trockenen Hitze eines sehr stillen Ozeans bis zu einer gefrorenen
Takelage im Nordmeer. Und dabei werden auch verschiedene Aspekte der
Kolonialgeschichte aufgegriffen.
Dankenswerterweise wird der Text auch noch durch Kartenmaterial und
Quellenangaben ergänzt, so dass man einige Ereignisse noch
einmal tiefgehender betrachten kann.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2008)
Carsten Jensen: "Wir Ertrunkenen"
(Originaltitel "Vi, De Druknede")
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Gebundene Ausgabe:
Knaus, 2008. 783 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2010.
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Carsten
Jensen, geboren 1952, wuchs in Marstal auf der dänischen Insel
Æro auf. Er studierte in
Kopenhagen Literaturwissenschaft und
arbeitete als Journalist und Kritiker. Sein literarisches Arbeiten
begann er Mitte der 1990er-Jahre.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Rasmussens letzte Reise"
Die spannende Weitererzählung einzelner Schicksale aus "Wir
Ertrunkenen":
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland
auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der
Eiswüste durchströmte und ihn die Seele seiner Malerei erkennen ließ. Doch im
Licht des Nordens begreift er, dass er seine Unschuld längst verloren und
seinen Erfolg auf Lebenslügen gebaut hat.
Mitte des 19. Jahrhunderts bricht der junge Carl Rasmussen zu einer Studienreise
nach Grönland auf. Er ist der erste dänische Maler, der sich in die Eiswüste
wagt und das Leben der Einwohner in seinen Bildern festhält. Hoch oben im
Norden fasst er den Entschluss, gegen alle Hässlichkeit fortan nur noch
"Schönes" zu malen, denn mit seinen Bildern will er Menschen
zusammenführen.
Nach seiner Rückkehr lässt er sich auf der Insel Æro nieder und heiratet. Nur
- glücklich wird er nicht. Je mehr Freunde seine Malerei findet, desto größer
werden seine Selbstzweifel. Hat er sich an das Idyllische verkauft? Ist er ein
harmloser Freilichtmaler geworden? Als alternder Mann reist Carl Rasmussen noch
einmal nach Grönland, auf der Suche nach dem verlorenen Leben. (Knaus)
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