Thomas Hürlimann: "Der Sprung in den Papierkorb"

Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand


Treppenwitziges mit Marginalien

Thomas Hürlimann, der 1950 geborene Schweizer Essayist und Geschichtenschreiber, präsentiert ein gutes Dutzend seiner sprachlichen Kleinodien, die aus unterschiedlichen Anlässen von 2002 bis 2007 erschienen sind, z.B. als Essays in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, eine Rede anlässlich der Verleihung des "Jean-Paul-Preises", eine Festrede zum 125-jährigen Bestehen eines bayerischen Gymnasiums.

Der Meister der pointiert-witzigen Kurzprosa zeigt in "Der Sprung in den Papierkorb", was keinesfalls im Papierkorb landen sollte: seine geschliffenen Erinnerungen an die Gymnasialzeit in der Schweizerabtei Einsiedeln und seine Gedanken zum Zeitgeschehen aus der Perspektive seines derzeitigen Berliner Wohnsitzes - all das rettet er aus der Versenkung des Abgelegten und Archivierten, um es garniert mit viel Wissen aus Literatur, Geschichte und Philosophie jenem Publikum vorzulegen, das die Erstausgaben in der "FAZ" oder "Der Zeit" versäumte oder an den Vorträgen nicht teilnehmen konnte. Auch Fichte, Kant, Platon und Jean Paul holt er mit gezielten Worten aus dem Papierkorb des Vergessens, trägt sie aus akademischen Elfenbeintürmen über die Wendeltreppe der Aktualität in die Gegenwart.

Hürlimann bietet seinen Lesern - der thematischen Auswahl nach dürfte er vor allem an deutsche Leser gedacht haben - mehr als nur eine Nachlese, eine Neuherausgabe: Die Notizen am Rand des Untertitels geben den Texten aus fast einem Jahrzehnt den Zusammenhalt. Marginalien in roter Schrift verweisen von einem Essay zum anderen, stellen inhaltliche Verbindungen her und lassen Neugier auf die nächsten Texte aufkommen. Und vor allem führen sie thematisch zum letzten Essay, L’esprit de l’escalier - Über die Treppe.

Die Treppe als Symbol und Thema, auch als Klammer zwischen Texten, versinnbildlicht u.a. das Auf- und Absteigen in der eigenen Biografie, auch die geistige Mobilität bei gleichzeitiger sozialer Trennung, betont die Vertikale, wo zahlreiche andere Essaybände Text an Text reihen. Die Rolltreppen und Gangways auf Flughäfen fehlen in der Kulturgeschichte des Auf- und Absteigens ebensowenig wie die Stufen zu vatikanischen Altären; Erinnerungen an Schultreppen der eigenen Jugendjahre illustrieren Aufstiege in die Philosophien von Hegel, Platon und Heidegger.

Kein Zweifel: Thomas Hürlimann baut an seinem Gesamtwerk, solche Treppen braucht dieses literarische Gebäude nicht nur als Zier.

(Wolfgang Moser; 06/2008)


Thomas Hürlimann: "Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand"
Ammann Verlag, 2008. 136 Seiten.
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Leseprobe:

Schreiben

Beim ersten Mal war ich gut, sehr gut sogar, doch wurde ich für meine Leistung nicht belohnt, sondern bestraft.
Damals war ich vierzehn Jahre alt und Klosterschüler im ehrwürdigen Stift zu Einsiedeln. Wir hatten einen wundervollen Deutschlehrer, Pater Erlebald. Er las uns seine Lieblingsgedichte vor und Szenen aus dem König David von Reinhard Sorge. Beim Eintritt ins Kloster hatte Pater Erlebald seine Stimme verloren, und noch heute höre ich die schönsten Verse der Menschen, die Gottfried Bennschen, von seiner fast tonlosen Stimme hervorgekrächzt.
An einem sonnigen Frühlingsmorgen lag Pater Erlebald, wie in letzter Zeit öfter, fieberkrank in seiner Zelle, und Pater Walafried, der Subpräfekt, erhielt vom Gütigen - so wurde der oberste Präfekt genannt - den Auftrag, unsere Klasse zu einem Stundenaufsatz ins Freie zu führen, auf einen Hügel hinter dem Kloster. Dort sollten wir, wie der Ersatzlehrer an Ort und Stelle verkündete, eine Baumgruppe beschreiben. Glücklich, der Steinwelt des Klosters entronnen zu sein, legte ich los. Durch die Blätter blitzte die Sonne, Dunst lag überm Land, und es fiel mir leicht, die sieben Linden als Naturkathedrale zu beschreiben, aus Luft und Licht gebaut, von uralten Säulen getragen. Nach einer Stunde sammelte Ersatzlehrer Walafried unsere Hefte ein und hieß uns Zöglinge, die wir schwarze Kutten trugen, ins Kloster zurückmarschieren. Damit hätte sein Auftrag geendet, Pater Walafried jedoch, der seit Jahren davon träumte, in den Schuldienst eintreten zu dürfen, wollte die Bewertung der Aufsätze nicht dem kranken Erlebald überlassen, sondern selber vornehmen. Während des abendlichen Studiums bestellte er mich in seine Zelle, zeigte auf mein Heft und fragte: "Wo hast du das abgeschrieben?"
"Ich habe nicht abgeschrieben, Herr Walafried", antwortete ich leise.
Er blieb dabei, bezichtigte mich der Lüge und wiederholte seine Frage. Vorsichtig wies ich den Pater darauf hin, er habe uns das Thema erst auf dem Hügel eröffnet, weshalb es mir gar nicht möglich gewesen wäre, mitten in der Natur ein Buch zu erwischen, um mich daraus zu bedienen. Walafried, seiner Meinung sicher, grinste meinen Einwand beiseite: "Gesteh, Lügner!"
Ich weigerte mich, ein falsches Geständnis abzulegen. Da befahl er mir, ihm die Innenflächen meiner Hände zu zeigen, und während er laut und lauter fragte, wer der Dichter sei, dem ich die herrlichen Sätze gestohlen habe, hieb er mit einem vierkantigen Lineal auf mich ein. Meine Handballen schwollen an, die Haut drohte zu platzen, er schrie, ich winselte, er schlug, ich heulte, doch heulte ich die Wahrheit: "Ich habe nicht abgeschrieben, Herr Walafried, ich habe nicht abgeschrieben." So wurde ich mit einem Lineal zum Dichter geschlagen, und wenn ich in späteren Jahren verrissen wurde, dachte ich wehmütig: Wenn wir wirklich gut sind, wird es uns heimgezahlt.
Mit sechzehn schrieb ich mein erstes Stück, stieg aus der Kutte, schlang mir einen Schal um den Hals, kletterte über die Klostermauer, fuhr per Autostopp nach Zürich, betrat die Direktion des Schauspielhauses und erklärte einer verdutzten Sekretärin, hier sei die Dichtung, auf die das Haus seit Jahren warte. Ich bat sie, mir so bald als möglich mitzuteilen, wann die Uraufführung stattfinde, und es kommt mir heute wie ein Wunder vor, daß ich nach einigen Wochen von Dietbert Reich, dem Dramaturgen, zum Gespräch geladen wurde.
Meine Komödie handelte von Adligen, die während der Französischen Revolution ins Innere der Erde geflohen sind. Dort zeugen sie sich fort, und als einer (ich!) nach langer Zeit an die Oberfläche zurückkehrt, stellt sich heraus, daß er nur noch an der Decke gehen kann. Dummerweise verliebt er sich in eine gewisse Gisela, die Frau des Einsiedler Fotografen, und da sie mit ihren schönen Beinen fest auf der Erde steht, bleibt die Liebe des jungen, kopfüber von der Decke hängenden Grafen ebenso unsterblich wie unerfüllbar. Dramaturg Reich erklärte mir, das Theater sei kein Zirkus, und meine Chance, gespielt zu werden, werde sich beträchtlich erhöhen, wenn ich künftig auf artistische Vorgaben verzichte. Ich fühlte mich verkannt, und wäre Gisela nicht gewesen, die ich vor meinem Freitod ein einziges Mal küssen wollte, hätte ich mich an einem Lindenast meiner Naturkathedrale aufgehängt, natürlich mit den Füßen nach unten. Aber Gisela zog es vor, ihre Ehe und mein Leben zu retten - sie verweigerte mir den Kuß. So schrieb ich, statt den Strick zu nehmen, einen Liebesroman, und aus Gründen, die auf der Hand lagen, der geschlagenen, stand im Mittelpunkt des in Hexameter gegossenen Werks ein gewisser Frunz, voller Pickel, die Nase krumm, vorstehend die Zähne, aber mit dem Talent versehen, sich bei einbrechender Dämmerung in einen Adler zu verwandeln. Frunz wagt es nicht, in einem Fotogeschäft sein Paßbild abzuholen, als Adler jedoch landet er nachts auf dem Dach, unter dem die schöne Gisela mit ihrem Fotografen das Bett teilt, stößt wilde Brunstschreie aus, ra raak, ri riik, und bestimmt ist es besser, wenn ich den Rest verschweige (der arme Vogel konnte alles außer vögeln).
Wieder wurde meine Dichtung verkannt, trotzdem schrieb ich weiter, ich mußte es tun, ob ich wollte oder nicht, nulla dies sine linea, kein Tag ohne Zeile, nur in den Wörtern konnte ich atmen, nur auf einer Seite, die bis zum Rand gefüllt war, ohne jeden Freiraum, wie heutzutage die Gemälde der Sprayer auf Betonwänden, war ich vorhanden. Erfolglos vorhanden. Was ich verschickte, sei’s an Theater, an Verlage, an Zeitungen, ging verloren oder kam mit vorgefertigten Absagen retour. Seit ich dreizehn war, führte ich die Existenz eines Dichters, aber ich mußte dreißig werden, bis es mir gelang, auf der Bühne und in einem Verlag, erst noch einem neu gegründeten, zu landen. (...)

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