Edvard Hoem: "Die Geschichte von Mutter und Vater"
Bewegende
Lektüre über Menschen, die ohne geistliche Strenge
ihr Leben und ihren Alltag religiös interpretieren und dabei
einen Sinn für ihr Leben finden
Edvard Hoem, geboren am 10. März 1949, ist als Schriftsteller,
Theaterregisseur und
Shakespeare-Übersetzer in Norwegen in der
Literatur- und Kulturszene ein fester Begriff. Schon 1974, als er
seinen ersten Roman, der unter dem Titel "Fährfahrten der
Liebe" 1987 auf Deutsch veröffentlicht wurde, vorlegte, wurde
der Autor in Norwegen berühmt.
Hat man das vorliegende Buch "Die Geschichte von Mutter und Vater"
ausgelesen, nimmt es einen nicht Wunder, dass dieses bewegende und
tiefgehende literarisch-biografische Zeugnis schon kurz nach seinem
Erscheinen im Jahr 2005 in Norwegen ein Verkaufserfolg wurde. Edvard
Hoem bekommt offenbar, selbst mitten in seinen Fünfzigern,
irgendwann das starke Bedürfnis, dem Leben und dem Schicksal
der Menschen nachzugehen, die ihm das Leben geschenkt, ihn aufgezogen
und in seinem Werdegang wie auch immer geprägt haben. Er gibt
in diesem wunderbaren Buch keinen Hinweis darauf - außer
einer Erinnerung, die das Buch einleitet.
"'Mama, liebst du den Papa?', fragte ich Mutter einmal in
meiner fernen Kindheit ... Ich war vielleicht sechs Jahre alt. Dann war
das im Jahr 1955."
Der kleine Junge rechnet damit, dass die Antwort, wie immer bei der
Mutter, kurz ausfallen wird. "Aber dieses Mal antwortete
Mutter nicht so leichthin und abwesend wie eigentlich sonst immer. Sie
hielt inne und sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nie zuvor
gesehen hatte. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder,
zweimal. Dann sagte sie mit fremder Stimme das, was mich
fünfzig Jahre nicht loslassen sollte:
'Ich hatte Vater nicht lieb, als ich mit ihm zusammenkam, aber ich habe
ihn liebgewonnen, weil er beständig war, beständig
und treu, und das ist genauso wichtig wie Liebe.'
An diesem Abend öffnete sich eine Tür ins Unbekannte.
Im Leben von Mutter und Vater gab es etwas, worüber nicht
gesprochen werden sollte, aber nun hatte sie es mir anvertraut, dass es
das gab."
Und dann, an einer bestimmten Stelle in seinem eigenen Leben,
beschließt Edvard Hoem, dem Leben und der Geschichte seiner
Eltern nachzugehen. Er wertete deshalb über eine lange Zeit im
Gudbrandsdal, dort wo sein Vater sein Leben lang als Laienprediger
für die Innere Mission arbeitete, schriftliche Zeugnisse aus
und befragte viele Menschen, die ihm etwas von den Familien sowie der
Geschichte seiner Mutter und seines Vaters erzählen konnten.
Hoems wichtigste Quelle war eine Art Tagebuch, in dem sein Vater
über Jahrzehnte sorgfältig alle Bibelarbeiten und die
Orte, an denen er sie gehalten hatte, notierte.
Aber Hoem geht in diesem außergewöhnlichen Buch noch
weiter zurück. Er beleuchtet die Kindheit und Jugend seiner
Eltern, lange bevor sich die beiden begegneten. Und so erfährt
der Leser nicht nur viel über die konfessionelle Landschaft in
Norwegen vor und nach dem Krieg, er liest vom Leben und Alltag
einfacher Bauern, die, ohne bigott zu sein, ihr Leben unter das
Wort Gottes stellen und den durch das Land wandernden oder mit dem
Fahrrad fahrenden Predigern oft über Wochen Obdach geben,
deren Mitarbeit auf dem Hof aber ablehnen, weil sie sich auf die
Vorbereitung der abendlichen Andacht konzentrieren sollen, und die in
ihren bescheidenen Bauernhöfen oft einen "Bischofszimmer"
genannten Raum haben, der nur für diese Prediger
bereitgehalten wird.
Man erfährt viel über die schwere Zeit der deutschen
Besatzung Norwegens. Hoems Vater Knut, der Prediger, hatte 1940, kurz
nachdem die Deutschen das Land überfallen und besetzt hatten,
mit seiner hauptamtlichen Predigertätigkeit
begonnen.
Knut verliebt sich noch während des Kriegs in eine junge
Bauerstochter, verlobt sich auch mit ihr. Doch die Verlobung wird
wieder gelöst, weil er weder auf dem Hof seiner Eltern der
ewige Sohn sein will, noch auf dem Hof der Eltern seiner Braut der
Jungbauer. Er weiht schon früh sein Leben dem Wort Gottes und
lässt nicht von dieser Tätigkeit, bis er alt ist.
Hoems Mutter Kristine verliebt sich während der deutschen
Besatzung in einen Soldaten und bringt kurz nach der Kapitulation anno
1945, der Soldat hat sie sitzengelassen, ein Kind zu Welt. Von den
Anderen als
Naziflittchen verachtet, begegnet sie irgendwann dem
Prediger Knut, der sie nach einiger Zeit des Werbens heiratet. Sie
liebt ihn nicht, doch, wie das Eingangszitat beschreibt, wachsen sie
zusammen. Sie führt den Hof während seiner langen
Missionsreisen, und wenn er über den Sommer zu Hause ist,
packt er mit an, ohne jedoch jemals an der bäuerlichen
Tätigkeit wirkliche Freude zu haben.
Hoems Buch ist der gelungene Versuch einer literarischen
Annäherung an seine verstorbenen Eltern.
Er tut es leise und
zart. Dabei ist sein Buch nicht nur Biografie, sondern auch ein
Stück Sozial- und Konfessionsgeschichte eines Norwegens, das
längst vergangen und von der Moderne abgelöst worden
ist. Auch wegen dieser Aspekte war dem Buch in Norwegen solcher Erfolg
beschieden.
(Winfried Stanzick; 02/2008)
Edvard Hoem: "Die Geschichte von Mutter und Vater"
(Originaltitel "Mors og fars historie")
Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen.
Insel Verlag, 2007. 218 Seiten.
Buch
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Heimatland. Kindheit"
"Heimatland. Kindheit" ist die Fortsetzung der sehr erfolgreichen
"Geschichte von Mutter und Vater". Wehmütig, nicht ohne leise Ironie
gibt der Roman, der 1985, zwanzig Jahre vor der Geschichte, erschien, beides:
zusammen mit der Schilderung einer Zeit im Umbruch ein Selbstporträt des Künstlers
als Kind. "Ich wollte die Geschichte meiner eigenen inneren Entwicklung
schildern, das Verhältnis zwischen Erwartung und Wirklichkeit."
Edvard, ein außerordentlich begabtes Kind - mit vier kann es lesen - wächst
auf einem entlegenen Hof in einem der rückständigsten Gebiete Norwegens auf.
Zwei Forderungen, zwei Wünsche zerren früh an dem Jungen: den Hof zu übernehmen
und Gottes Wort zu verkündigen - wie der Vater, der neun Monate des Jahres als
Prediger unterwegs ist. Am Ende des Buchs, mit vierzehn, zieht Edvard in die nächste
Stadt, um aufs Gymnasium zu gehen und als Erster seines Dorfs Abitur zu machen.
Die Trennung vom Hof, von Heimat und Kindheit, zeichnet sich ab ... (Insel)
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