Elina Hirvonen: "Erinnere dich"
Außenseitertum
in finnischer
Idylle
Elina Hirvonen zeichnet in ihrem großartigen, teils
erschütternden Debütroman
ein Bild fernab der verklärten unendlichen Wildheit der
finnischem Landschaft.
Ein flüchtiger Blick auf Finnland
zeigt dem Betrachter ein blühendes, friedliches Land, mit
einem vorbildlichen
Schulsystem und ausgezeichneten sozialen Systemen. Hinzu kommt eine
unendliche,
wilde Landschaft voller ätherischer Schönheit. Aber
unter dieser Idylle liegt
eine bedrohlichere Seite, ein Land, das sich die Hälfte des
Jahres der
naturgegebenen Finsternis unterordnen muss. Der Norden hat
jährlich für zwei
Monate unter extremer Dunkelheit zu leiden. Einsamkeit und Depression
sind üblich,
die Selbstmordrate ist eine der höchsten der Welt.
Diese bedrohliche Seite eruptierte im Herbst letzten Jahres das erste
Mal öffentlich
wahrnehmbar. Der "moderne Terror" schlug nun auch in Finnland wie ein
Meteorit ein. Am 7. November 2007 richtete der achtzehnjährige
Abiturient
Pekka-Eric Auvinen ein Massaker an seiner Schule an. Er erschoss
fünf Jungen,
zwei Mädchen, die Schulleiterin und anschließend
sich selbst.
Für die Finnen war ein derartiges Gemetzel bis dato fremd, das
Problem jedoch
bekannt - psychische Krankheiten sind schon lange ein Teil der
kulturellen
Landschaft geworden.
Elina Hirvonens erster Roman "Erinnere dich" zeigt, wie eine Familie
unter der Geisteskrankheit eines Mitglieds leiden kann. Ihr Buch, das
mittlerweile der meistübersetzte Roman der finnischen
Geschichte ist,
beleuchtet diese dunkle Ecke der finnischen Gesellschaft.
Der Leser begegnet Anna Louhiniitty in einem Helsinkier
Café, die dort an einem
Tisch sitzt und den schmerzhaften Besuch bei ihrem Bruder Joona in
einer
Nervenklinik hinauszögert. Das gesamte Roman-Rahmenkonstrukt
handelt in diesen
wenigen Stunden eines Tages. Während sie eine Tasse Kaffee
trinkt, an einem
Campari nippt und einen Mozzarella-Salat isst, liest sie abwechselnd in
Virginia
Woolfs "Mrs Dalloway" und denkt an ihren schizophrenen
Bruder. War
nicht sogar sie verantwortlich für Joonas letzte Krise?
Anna erinnert sich an Momente ihrer frühen Kindheit, ihre
Jugendjahre, als
Joona bereits psychisch gestört war, und an ihre
jüngste Vergangenheit.
Joona und Anna sind die Kinder eines evangelischen Pfarrers und seiner
in
Schweden bei Pflegeeltern aufgewachsenen Frau. Joona macht durch sein
auffälliges
Verhalten seinen Vater mehr als oft rasend, der ihn dann unkontrolliert
und mit
äußerster Brutalität verprügelt.
Auch die beiden Eltern hatten schwierige
Vergangenheiten, die ständig in ihr Erwachsensein
hineinbrechen, wie die reife
Anna jetzt erkennt.
Parallel zu Annas Geschichte wird die ebenfalls problembehaftete
Kindheit ihres
amerikanischen Freunds Ian eingeflochten. Er ist der Sohn eines durch
seine
schrecklichen Erfahrungen zerstörten Vietnam-Veteranen
und einer Mutter, die
einen Weg aus so viel Leiden nur durch einen neuen Partner fand.
Alle Charaktere durchleben noch einmal ihre schwierige Vergangenheit
und
erfinden zum Teil ihre Erinnerungen neu, indem sie darüber
schreiben; Anna
schreibt Poesie über ihren Bruder, und Ian verbrachte seine
Kindheit damit,
Geschichten über einen Vater als Superhelden zu erfinden.
Die ganze Struktur wird von Anna als Erzählerin noch zunehmend
kompliziert: Sie
stellt sich nicht nur ihre eigene Geschichte wieder vor, sondern auch
die von
Ian, der sich wiederum seine vorstellt. Im Wesentlichen laufen zwei
Erzählstränge
parallel, diese werden mit anderen Episoden, Beobachtungen und
Reflexionen aus
wechselnden Perspektiven erweitert, "nebeneinander" berichtet und dann
zusammengeführt. Die Stimmungen, Eindrücke und
äußeren Geschehnisse verweben
sich aus der Sicht der verschiedenen Personen in gleitenden
Übergängen
miteinander.
Neben der Handlung sind auch im Stil starke Parallelen zu Virginia
Woolfs "Mrs
Dalloway" zu finden. Genau wie Woolfs Roman weicht Hirvonen mit ihrer
"simultanen" Darstellung von der Tradition des auktorialen
Erzählers
ab. Sie setzt erlebte Rede, direkte Rede, inneren Monolog nebeneinander
und
betrachtet die Figuren aus unterschiedlicher Sichtweise.
Die unterschiedlichen Beziehungen kulminieren mit dem Kriegsbeginn im
Irak, was
"Erinnere dich" zu einem aktuellen zeitgenössischen Roman
macht und
seiner Melancholie und finnisch geprägten Atmosphäre
auch internationale Schärfe
gibt.
Jedoch bildet die Beziehung Annas zu ihrem Bruder das eigentliche
Herzstück des
Romans: eine intensive Co-Abhängigkeit der Geschwister
Louhiniitty, aus der
Anna nun eine lebenswerte Erinnerung machen will: "Ich will
eine
Kindheit, an die man sich erinnern kann, ein Leben, über das
man mit anderen
sprechen kann. Einen Bruder, der ein richtiges Leben hat."
Großartig gelingt es Hirvonen, trotz der Einflechtungen der
Ereignisse des 11.
September, des Irak-Kriegs
und Vietnam-Referenzen, einen Roman zu konstruieren,
der nicht vorgibt, mehr zu sein, als er ist: "Erinnere dich" ist und
bleibt eine tragische Familiengeschichte und ist höchst
persönlich. Die
globalen Ereignisse liefern nur den Kontext zu den
persönlichen und privaten
Geschichten: das Politische übernimmt niemals die Oberhand.
"Erinnere dich" ist ein fragmentiertes, zerlegtes und
zerstückeltes,
aber faszinierendes Ganzes - wie ein Puzzle, das Anna, Stück
für Stück anhand
ihrer eigenen Erinnerungen und derjenigen von Anderen zusammensetzt,
und dann
halb beendet beiseite legt. Es ist auch eine Art
Schlüsselloch, durch das man
das Leben betrachten kann, aber niemand erklärt einem die
Vorgänge. Dem
Freiraum der Gedanken wird dadurch ein enormes Potenzial gegeben.
Elina Hirvonen schreibt ruhig, klar und scharfsinnig. Sie hat einen
Stil, der
einzigartig und äußerst kraftvoll ist, und sie
benutzt ihn, um ein starkes
Netz aus Spannung und Entschlossenheit zu flechten. Auf nur 160 Seiten
hat die
Autorin einen großartigen Roman gestrickt, der trotz aller
Sparsamkeit
eigentlich alles sagt, was es zu sagen gibt, und für all jene
zugänglich ist,
die gewillt sind, sich für einen Tag in die Gedanken eines
anderen Menschen
hineinzuversetzen.
Ein beeindruckendes Debütwerk in einer wunderbaren,
flüssigen und stilechten
Übersetzung von Elina Kritzokat!
(Heike Geilen; 01/2008)
Elina
Hirvonen: "Erinnere dich"
(Originaltitel "Etta hän muistaisi saman")
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat.
dtv premium, 2008. 160 Seiten.
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