Róbert Hász: "Der Herrscher der Seelen"
Eine
gefährliche Intrige im
Spannungsfeld zwischen Kaiser, Papst und Byzanz kurz vor der
ersten
Jahrtausendwende
Das erste Jahrtausend nach Christus neigt sich seinem Ende zu;
Mitteleuropa hat
eine schwierige Zeit hinter sich. Viele Jahre lang sind die Ungarn dort
eingefallen und haben gemordet und geplündert, bis Kaiser Otto
sie auf dem
Lechfeld schlug. Seither hat sich das bedrohliche Reitervolk nach
Pannonien zurückgezogen.
Doch das Land der Ungarn befindet sich in einer strategisch brisanten
Position,
nämlich dort, wo sich der Einfluss von
Byzanz,
Kaiser Otto und
dem römischen
Papst, dreier politischer Gegner, überschneiden. Wer die
Ungarn für sich
gewinnen kann, wird in der Lage sein, eine höchst willkommene
Pufferzone zu
schaffen.
In der Benediktiner-Abtei von St. Gallen lebt seit vielen Jahren der
Mönch
Stephanus von Pannonien, der als Kind zu den Benediktinern kam. Nun,
bereits über
sechzig Jahre alt, wird er von seinem Abt mit einer Botschaft des
Papstes zum
Großfürsten der Ungarn geschickt. Er soll den Heiden
die christliche Lehre
verkünden und zugleich ein Bündnis des
Großfürsten mit dem Papst sichern.
Stephanus erhält zudem vom Abt ein Medaillon mit einem
geheimnisvollen Vogel,
der in der Mythologie der Ungarn eine wichtige Rolle spielen soll. Mit
einem
Ritter als Begleiter zieht er los.
Doch alles entwickelt sich ganz anders als gedacht. Schon unmittelbar
nach der
Grenze gerät Stephanus in Gefangenschaft. Dort macht er die
verwirrende
Entdeckung, dass er die ungarische Sprache beherrscht - ein Relikt aus
seiner frühen
Kindheit? Ein anderer Stamm jagt Stephanus seinen Geiselnehmern ab. Und
nun
zeigt sich die Bedeutung des Medaillons: Manche ungarische Edle
glauben,
Stephanus sei der verloren gegangene Sohn des ermordeten geistlichen
Führers
der Ungarn, und diejenigen, die es nicht glauben, halten es dennoch
für
vorteilhaft, Stephanus als den neuen Großweisen aufzubauen.
Stephanus findet
sich allmählich in diese Rolle, während er von einem
der zerstrittenen
ungarischen Fürsten zum anderen gerät - bis er zu
unbequem wird und eine Reihe
ungarischer Edler beschließt, seinem Einfluss auf den
designierten Großfürsten
durch Mord ein Ende zu bereiten.
Jahre
später
soll Alberich, ein Mönch in St. Gallen, im Auftrag des Abtes
eine Biografie über
Stephanus als Märtyrer verfassen, die dessen Heiligsprechung
in die Wege leiten
wird. Doch Alberich stößt nicht nur auf
Ungereimtheiten, sondern er stellt
fest, dass Stephanus noch lebt. Und allmählich keimt in dem
jungen Mönch ein
entsetzlicher Verdacht.
Was wie eine eigenwillige Mischung aus historischem Roman und Krimi
anmutet,
kommt dieser Einordnung in der Tat nahe. Freilich eignet sich die
frühe
ungarische Geschichte ab der Landnahme vorzüglich für
ein solches Projekt,
denn die ungarischen Führer waren uneins und strebten
sämtlich nach der
Position des Großfürsten, ein Bestreben, das
völlige Skrupellosigkeit
erforderte. Und an dieser mangelte es den Stammesfürsten nicht.
Róbert Hász verflicht in seinem Roman mehrere
Handlungs- beziehungsweise Erzählungsstränge:
zum einen die Rahmenerzählung, in der Alberich von seinem
schriftstellerischen
Auftrag berichtet und durch Rückblenden Erinnerungen Revue
passieren lässt,
die dem Leser das Verständnis der Hintergründe
ermöglichen; des weiteren
Alberichs "offizielle" Biografie des Stephanus von Pannonien; und
drittens die wahre Geschichte um Stephanus und seine Ungarnreise, die
Alberich
unmittelbar vom doch nicht ermordeten Stephanus erfährt und
heimlich
niederschreibt.
Was sich anfangs wie ein historisches Abenteuer entwickelt,
erhält rasch eine
Tiefe und Bedrohlichkeit, die man nicht vermuten würde, und es
kommt zu einigen
überraschenden Wendungen. Mit trockenem Humor und einem
vorzüglichen Sinn für
die Darstellung skurriler, jedoch authentisch auftretender Charaktere,
viel
Sachkenntnis und Ausdrucksstärke lässt der Autor eine
düster-befremdliche, um
die erste Jahrtausendwende jedoch sehr reale Welt voller Intrigen
auferstehen,
die sich gerade neu ordnet. Hász' Stil besticht durch
Schlichtheit und Kraft.
Es macht Freude, diesen fesselnden Roman zu lesen, und man muss nicht
ausgesprochen ungarophil sein, um sich von den historischen
Hintergründen
begeistern zu lassen. Sicher wird dieser Roman jedoch manchen Leser an
die
wechselhafte ungarische
Geschichte heranführen.
(Regina Károlyi; 03/2008)
Róbert
Hász: "Der Herrscher der Seelen"
(Originaltitel "A Künde")
Aus dem Ungarischen von Andrea Ikker.
Klett-Cotta, 2008. 350 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Leseprobe:
Ich, Alberich von Langres, Schlüsselwart des Scriptoriums und
Bibliotheksvorsteher der Benediktiner-Abtei zu St. Gallen, ward im
Jahre des
Herrn 973, im Monat Februar, von meinem Abt Virgil von Aquilea mit dem
Auftrag
betraut, die wahre Geschichte meines einstigen Meisters Stephanus von
Pannonien
für die Annales Sanctgallenses Maiores aufzuzeichnen
- beginnend bei
Stephanus' Ankunft in unserem Kloster, seinen Aufbruch in das Land der
Ungläubigen,
wo er mit unerschütterlichem Mut die Worte des Evangeliums
verkündete, ganz
bis zu dem Tage, als er zum Heil für uns alle in die
Herrlichkeit des Herrn
einging. Die schriftliche Verewigung des Lebenswerkes meines geliebten
und der
Liebe über aus würdigen Meisters dient nicht zuletzt
der Absicht, die böswilligen,
häufig auf Gerüchten
beruhenden Legenden zu
widerlegen, die sich um seinen
angeblichen Abfall vom rechten Glauben, seine Heimkehr in Schande und -
horribile
dictu - um seinen Lebensabend in einsamer Verbannung ranken.
Die Hilfe
unseres diensteifrigen und bei der fürsorglichen
Führung der Herde des Herrn
ergrauten, jedoch aus dem Vollbesitz seiner Seelenkraft
schöpfenden und
hochverehrten Abts, Virgil von Aquilea, hat sich bei der Fertigstellung
meiner
Arbeit als unentbehrlich und unendlich segensreich erwiesen. Nur mit
seinem
Beistand und nach seinen Weisungen konnte ich den Versuch wagen, die in
Zeit und
Raum verstreuten Einzelheiten der Lebensgeschichte des Stephanus von
Pannonien
wieder zu einem Ganzen zu fügen. Meine Arbeit kann jedoch
nicht vollkommen
sein. Über manchen Ereignissen wird auf ewig ein Schleier
liegen, der nur von
einigen wenigen Menschen hätte gelüftet werden
können, die seit Jahren nicht
mehr unter den Lebenden weilen. Meine ganz besondere Aufmerksamkeit
habe ich dem
sorgfältigen Erforschen aller Geschehnisse und ihrer getreuen
Wiedergabe
gewidmet. Zugleich war ich bestrebt, meine Arbeit
abzuschließen, bevor die
Prozedur der Heiligsprechung unseres Bruders Stephanus beginnt - ein
Ereignis,
das unserem Kloster mit seiner großartigen Vergangenheit eine
in Zukunft noch
bedeutendere Stellung sichern dürfte. Die Tatsache, ehemals
selbst Schüler des
Stephanus von Pannonien gewesen zu sein, erfüllt mich nicht
nur mit Stolz,
sondern war auch für meine Arbeit sehr hilfreich. Nicht selten
konnte ich so
auf eigene Erinnerungen zurückgreifen.
Für die Richtigkeit der Überlieferungen
über die Ankunft des Stephanus von Pannonien in unserem
Kloster kann sich der
Verfasser nicht verbürgen, da der letzte Ordensbruder, der
damals noch gelebt
und darüber hinaus lange Jahre als Lehrer und Erzieher des
Kindes Stephanus
gewirkt hatte - ein gewisser Pater Hilarius - im Jahre 955 nach Christi
Geburt
in die Ewigkeit abberufen wurde. Überliefert sind nur Legenden
und Anekdoten,
deren Glaubwürdigkeit nicht mehr feststellbar ist.
Sicher ist jedoch, daß
Stephanus in puncto Weisheit und Frömmigkeit immer ein
vorbildlicher Bruder
gewesen ist, der die Vorschriften unseres Ordensgründers, des
Hl. Benedikt, auf
die getreueste Weise befolgt hat. Als Stephanus vor Jahr und Tag noch
in unserer
Mitte weilte und Lehrer des gottesfürchtigen Alberich von
Langres - also meiner
Wenigkeit - war, hatte er mir anvertraut, der
Sprößling einer vornehmen
bairischen Adelsfamilie zu sein. Dies wäre der Grund, warum er
seinen wahren
Namen geheimhalten würde. In Anbetracht seiner aufrichtigen
Natur hegen wir an
dieser Behauptung keinerlei Zweifel. Stephanus von Pannonien hat bis in
das Jahr
963, als ihn der weise Abt unseres Klosters, Virgil von Aquilea - ein
in
jeglicher Hinsicht würdiger Vertreter unseres
Ordensgründers -, mit einem im
folgenden noch näher zu beschreibenden Auftrag betraute,
unsere umfangreiche
Bibliothek um zahlreiche wertvolle Werke erweitert. Er fertigte Kopien
geliehener Bücher an oder reiste als Abgesandter unseres
Klosters zu anderen
Ordensniederlassungen und Bistümern, um alle Duplikate zu
erwerben, deren er
habhaft werden konnte. (Bei einer dieser Reisen in das
ehrwürdige Aachen durfte
auch ich ihn begleiten.) Als im Laufe der Jahre sein Augenlicht
schwächer wurde
und ihm das Entziffern der Buchstaben immer mehr Mühe
bereitete, wurde er mit
der Pflege
des Weingartens betraut. Auch dieser Arbeit widmete er sich
mit
Hingabe, denn er liebte den Weinberg über alles. Nicht so
allerdings den Wein,
den Meister Stephanus aus tiefster Seele verabscheute, ebenso wie der
Verfasser
dieser Zeilen, denn beide führen ein Leben von
großer Nüchternheit und
Tugend.
Im
Jahre 963 des Herrn, vor
genau zehn Jahren, wurde an einem Spätsommertag Alberich von
Langres - also ich
- von seiner unermüdlichen Arbeit am Schreibpult des
Scriptoriums zu Abt Virgil
beordert. Der Vorsteher bat mich, meinen Meister zu suchen und ihm
auszurichten,
der Abt wünsche ihn dringend zu sprechen. Ich wußte
gleich, wo ich Stephanus
zu suchen hatte und fand ihn binnen kurzem im Weinberg. Er
saß unter dem
Kirschbaum und war in tiefes
Beten
versunken. Als er geendet hatte,
hörte er
sich meine Botschaft an und begab sich unverzüglich zu unserem
Abt. Virgil von
Aquilea erwartete ihn in seiner Zelle. Diese war karg eingerichtet,
bescheidener
und unbequemer als jede andere Zelle des Klosters. In der Stube befand
sich
nicht einmal ein Stuhl. Der Abt war ein Vorbild an Demut, damit allen
zeigend,
daß im Kloster der erste nicht besser war als der letzte.
Stephanus trat ein.
Virgil kniete vor dem Kruzifix und betete. Als er den
Ankömmling erblickte,
segnete er ihn. Sie beugten beide das Knie vor dem Kruzifix. Dann trug
der Abt
seinen ihm von Gott eingegebenen Gedanken vor.
"Unser Glaube, mein Bruder,
kann nur dadurch an Macht gewinnen, daß wir ihn unter den
Ungläubigen
verbreiten. Es ist immer wichtig, das Lob des Herrn gerade dort zu
verkünden,
wo die Aussichten auf Erfolg am geringsten sind. Du mußt zu
den Ungläubigen im
Land der Tyrcen ziehen und diesem Barbarenvolk die heilige Botschaft
des
Evangeliums bringen. Geh und verbreite das Lob unseres
Erlösers!"
Stephanus erschrak vor dem
Auftrag. Er protestierte, er flehte. Virgil von Aquilea möge
einen anderen mit
dieser Aufgabe betrauen. Sein Platz wäre im Kloster, er
hätte sich an den
Ablauf der täglichen Arbeit gewöhnt und
hätte keine Kraft mehr für eine
solche Unternehmung. In seiner Barmherzigkeit ließ sich Abt
Virgil von
Stephanus' Worten rühren und sagte:
"Ich verstehe deine Furcht,
mein Bruder. Deshalb sei es so: Schließe dich in deiner Zelle
ein. Bete bis zum
Morgengrauen das Pater Noster. Morgen vor Sonnenuntergang komm zu mir
und laß
mich deine Entscheidung wissen. Hast du dann in deinem Herzen noch
nicht die
Kraft gefunden, werde ich einen anderen entsenden." Stephanus
beherzigte
den Rat. Er schloß sich in seiner Zelle ein und betete bis
zum Morgengrauen
still und leise das Pater Noster. Und er bekam ein Zeichen. Zwischen
den
Gebetszeilen erschien ihm das gütige und
gottesfürchtige Antlitz des Abtes,
wie er mit kummervoller Miene an die Tausenden und Abertausenden
Ungläubigen
dachte, die ohne Erlösung und ohne jede Hoffnung auf Seligkeit
ihr sündiges
Leben fristen mußten. Und es geschah das Wunder: Bevor die
Sonne am Abend
unterging, goß der Herr Mut in das Herz des Stephanus von
Pannonien. "Ich
werde mich aufmachen mit der Botschaft des Herrn", sagte Stephanus zu
Virgil von Aquilea.
"Ich habe immer an dich
geglaubt", antwortete Virgil. (...)