Christian Haller: "Im Park"


Eine Kammer aus begrenzter Zeit

Mittvierziger Emile Ryffel, Paläontologe von Beruf, musste letzte Nacht seine Lebensgefährtin Lia Schelbert, eine politisch engagierte Filmproduzentin Ende dreißig, in die Universitätsklinik einliefern. Die schockierende Diagnose: Koma nach intrazerebraler Blutung im Gehirn. Die Ärzte geben wenig Hoffnung.

Wieder in der gemeinsamen kleinen Wohnung beginnt das qualvolle Warten, Bangen und Hoffen. Ein angelesenes Buch Lias scheint wie ein Omen auf dem Tisch zu liegen. "Er hatte an das gelbschwarze Taschenbuch denken müssen, an Chandlers Kriminalroman. Was würde auf den nächsten Seiten stehen, die Lia noch nicht gelesen hatte? Fände er dort nicht einen Hinweis, was die Zukunft bringen würde, eine Art Orakel über Lias Zustand?"

Nicht die Handlung des Buches, sondern das Lesezeichen offenbart sich ihm. Ist auf selbigem doch der Kopf einer völlig in sich gekehrten Bodhisattva-Statue abgebildet. "Im Mahayana-Buddhismus werden Bodhisattvas als nach höchster Erkenntnis strebende Wesen angesehen, die auf dem Wege der 'Tugendvollkommenheit' die 'Buddhaschaft' anstreben bzw. in sich selbst realisieren, um sie zum Heil aller lebenden Wesen einzusetzen", verrät die freie Enzyklopädie "Wikipedia". Der 14. Dalai Lama, der Mönch Tenzin Gyatso, gilt zum Beispiel als Wiedergeburt des Bodhisattvas Avalokiteshvara.
"Mitgefühl und Liebe sind wertvolle Dinge im Leben. Sie sind nicht kompliziert. Sie sind einfach, aber sie sind schwierig zu praktizieren." Diese Worte aus einer Ansprache des geistlichen Oberhauptes der Tibeter sind Christian Hallers roter Faden durch seinen Roman, der auf den ersten Blick eine Dreiecksgeschichte, auf den zweiten jedoch eine subtil-feinfühlige Studie eines Mannes offenbart, der vor einer Lebensentscheidung steht.

Zwischen Skylla und Charybdis
Seit der letzten Nacht gibt es für Emile nur noch ein abgeschlossenes Dasein, eine abgetrennte Vergangenheit, "zu der keine Fortsetzung vorstellbar war." Da ist auf der einen Seite Lia, die zwar nach fünf Tagen aus dem Koma erwacht, jedoch mit einer halbseitigen Lähmung ein lebenslanger Pflegefall bleiben wird und Emile erkennen lässt, dass alles, "was gewesen war, für Jahre selbstverständlich gewesen war" so nicht mehr wiederkehren würde.

Auf der anderen Seite steht Klara, das achtzehnjährige Mädchen, dessen Nähe er nicht missen möchte und für das er Lia in letzter Zeit mehr und mehr aus seinen Gefühlen ausgeschlossen hatte. Könnte es gar sein, dass seine Liebe zu Klara Lia in die Krankheit getrieben hat? Doch wiederum war es Lia selbst, die Klara als ihre Vertreterin ausgesucht hat, als sie sie als Begleiterin zu einem Ball vorschlug, den sie nicht wahrnehmen konnte, und wo alles begann.
In immer größere Widersprüche verstrickt sich Emile, der tagsüber an Lias Krankenbett weilt und die Abende in den Armen der Geliebten verbringt.

Auf dem Weg durch einen Park, "in den Vorhof des Todes" wie er die Klinik nennt, denkt er über sein Leben und das Dasein nach. Manchmal langsam, dann wieder forsch, ein anderes Mal nachdenklich und betrübt oder aber voller Zuversicht, gestaltet sich der Weg als Gradmesser seiner eigenen Befindlichkeiten und wird entsprechend wahrgenommen. "Musste nicht auch er neue Areale erschließen, weil die alltäglichen Muster sich verzerrt und verschoben hatten, sich noch immer in Bewegung befanden, als wäre ein Hang mit Häusern und Straßen ins Rutschen geraten? Sackte nicht auch ein Teil seines Lebens unaufhaltsam weg?"
Ein Vergleich mit Hieronymus Boschs Triptychon "Garten der Lüste" tut sich auf. Emile empfindet "seinen Körper hohl und aufgebrochen wie auf dem Bild, bewohnt von Ängsten und dämonischen Wesen." Findet er bei Klara "die noch unverbrauchten Lebensbereiche"?

Emile steht zwischen Skylla und Charybdis. Egal wie er sich entscheidet, irgendwen - sich selbst oder eine der geliebten Frauen - wird er immer verletzen. "Mein ganzes Dasein mache ich zu einem Hohngelächter über mich selbst", lautet letztendlich sein vernichtendes Urteil.

Keine sentimentalen Rührseligkeiten
Christian Haller behandelt das vielfach allzu oft ins Triviale abgleitende literarische Thema einer amour fou mit kunstvoller Raffinesse und poetischen Bildern, aber auch mit Klarheit und Härte. Sentimentale Rührseligkeit wird man vermissen. Nicht laut und tränenreich, sondern in einer schnörkellosen, "wattig schallgedämpften Stille" kommt seine Erzählung daher, doch dafür umso eindringlicher. In vielen subtil miteinander vernetzten Passagen und zum Teil mythischen Allegorien beweist der 1943 in Brugg geborene Autor sein schriftstellerisches Können.

Derweil weiß Haller um das Thema nur allzu gut Bescheid. "Jeder ernsthafte Schriftsteller schöpft letztlich aus dem, was er selbst erlebt und erlitten hat. Eine andere Ressource hat er nicht. Und ich habe entdeckt, dass dieses Material unendlich viel Poesie enthält, die man nur sehen und ergreifen muss. Das Erleben, besonders wenn es an die existenziellen Grundlagen geht, ist prall gefüllt mit Details, denen gegenüber unsere Fantasie etwas ganz Blasses ist", erzählte er in einem Interview. Bei ihm liegt die ganze Sache noch viel tiefer, ist ihm doch selbst vor 23 Jahren widerfahren, was er in seinem Roman beschreibt. Seit damals lebt er mit seiner invaliden Gefährtin und deren Schwester in einer Hausgemeinschaft. Was seinem Protagonisten Emile noch nicht gelingt, ist Christian Haller geglückt: die Parallelwelt, in die Angehörige von Kranken geraten, zu akzeptieren und seine Ungeduld zu überwinden. Der Autor hat gelernt, Langsamkeit als Chance zu sehen, ermöglicht doch manchmal gerade sie das genaue Erleben.

Fazit:
"Im Park" ist die Geschichte eines Aus- und eines Aufbruchs, der letztendlich auch ein Ende deklariert, das jedoch ins Freie führt. Christian Hallers Roman ist ein beklemmender und überzeugender literarischer Genuss höchstens Ranges; eine feinfühlige psychologische Studie eines Mannes, der unbewusste Tiefenschichten des Daseins freilegt und gleichzeitig den Leser darüber nachdenken lässt, wie er sich in einer derartigen Situation entschieden hätte.

(Heike Geilen; 09/2008)


Christian Haller: "Im Park"
Luchterhand Literaturverlag, 2008. 186 Seiten.
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Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Aargau, geboren und studierte Zoologie an der Universität Basel. Acht Jahre lang war er als Bereichsleiter der "Sozialen Studien" am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon / Zürich tätig und vier Jahre als Dramaturg am Theater "Claque" in Baden. Von 1994 bis 2000 war er Mitglied der Theaterkommission der Stadt Zürich. Er ist Kolumnist der "Aargauer Zeitung" und lebt als Schriftsteller in Laufenburg. Christian Haller wurde u. a. mit dem "Aargauer Literaturpreis 2006" und dem "Schillerpreis 2007" ausgezeichnet.
Im Luchterhand Literaturverlag erschienen u. a. die Romane: "Strandgut" (1991), "Der Brief ans Meer" (1995). "Die besseren Zeiten" ist nach "Die verschluckte Musik" (2001) und "Das schwarze Eisen" (2004) der dritte, in sich abgeschlossene Roman von Christian Hallers "Trilogie des Erinnerns:

"Die verschluckte Musik" / "Das schwarze Eisen" / "Die besseren Zeiten"
Christian Haller erzählt in seiner "Trilogie des Erinnerns" von einer Schweizer Industriellen-Dynastie und dem zögernden Heranwachsen eines Autors aus dieser Familie, der Jahre später die Geschichte dieser Familie schreibt: aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom eleganten Leben in Bukarest bis hin zu dem kargen Leben in der Schweizer Provinz, die langsam aber unaufhaltsam von einem neuen Wohlstand hinweggespült wurde. (btb)
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