Joel Haahtela: "Der Schmetterlingssammler"
Spurensuche
Der finnische Autor Joel Haahtela lässt in seinem Roman "Der
Schmetterlingssammler" seinen namenlosen Ich-Erzähler auf der
Suche nach
sich selbst quer durch Europa reisen. Doch erst bei der
Rückkehr in seine
Heimat löst sich das Geheimnis seiner unerwarteten Erbschaft
und das seines
gesamten Lebens auf.
Schon der wunderschöne Einband dieses großartigen
Buches besticht durch eine
farbenprächtige Vielfalt "fliegender Edelsteine", die zudem
noch fühlbar
geprägt sind.
Was wäre eine Sommerwiese ohne die lautlosen Gaukler der
Lüfte? Aufgetankt
durch das wärmende Sonnenlicht flattern die Boten des Sommers
von Blüte zu Blüte.
Sie strahlen Leichtigkeit aus und faszinieren durch
vielfältige Farben und
Muster.
Schmetterlinge sind eine elegante und filigrane Zierde für
jeden Garten. Hübsche
Farbtupfer, die durch die Leichtigkeit ihres Fluges beschwingt stimmen.
Mit rund
150.000 bekannten Arten stellen sie eine der größten
und beliebtesten
Insektengruppen auf unserer Erde.
Doch wenn wir sie durch die Lüfte "torkeln" sehen, ist ihr
Leben
eigentlich fast schon vorbei. Nur kurz zeigen sie ihre bunte und
lebendige
Oberfläche, der eine lange Zeit des Verborgenen,
Unauffälligen vorangegangen
ist.
Mit dem Thema "Unter der Oberfläche liegt Verborgenes"
beschäftigt
sich auch der finnische Schriftsteller und Psychiater Joel Haahtela,
Jahrgang
1972, in seinem erstmals ins Deutsche übertragenen Roman "Der
Schmetterlingssammler", der von den Geheimnissen des menschlichen
Lebens
erzählt. Schmetterlinge sind für ihn das verbindende
Element.
Auf den Spuren menschlicher Geheimnisse
Der namenlose Ich-Erzähler erhält im April 1991
überraschend ein Schreiben,
in dem ihm mitgeteilt wird, dass er der alleinige Erbe eines gewissen
Henri
Ruzicka sei. Dieser hinterlässt ihm ein Haus, ein
Grundstück und eine
Geldsumme. Wer war dieser Mann, dessen Namen er nie zuvor
gehört hat? "Hinter
diesem Namen verbarg sich etwas, ein ganzes Leben",
spürt der
Protagonist noch in der Anwaltskanzlei.
Als er zum ersten Mal das abgelegene, stille, beinahe verfallene Haus
besucht,
offenbaren sich ihm noch weitere Geheimnisse: eine
überwältigende
Schmetterlingssammlung, ein Bündel alter Briefe von einer
gewissen Anna Prinz
aus Pirna - einer kleinen Stadt in der Nähe von Dresden -, ein
schwarzes
Notizbuch, eine Postkarte aus Kreta, auf der sein Name und seine
Adresse notiert
waren, und eine kleine Holzschachtel, in deren Innerem ein
blutgetränktes weißes
Stoffstück liegt.
Obwohl er keinen Zusammenhang mit sich und seiner Familie ausmachen
kann, bedrückt
den Ich-Erzähler etwas, spürt er eine Lücke,
einen Bruch in seinem Leben.
Etwas liegt schwer auf seinen Erinnerungen, das er jedoch nicht zu
deuten weiß.
Mit seinem Vater kann er nicht darüber reden, "irgendetwas
war ungesagt
geblieben, etwas, das keiner von uns in Worte fassen konnte, das viel
zu groß
geworden und nicht wiedergutzumachen war". Seine Mutter ist
bereits
seit langer Zeit - damals war er fünf Jahre alt - tot. Seine
Beziehung zu
seiner Frau Eeva steht ebenfalls auf Messers Schneide.
Doch die unerklärliche Erbschaft lässt ihn nicht los.
"Auch wenn ich
versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, kreisten meine
Gedanken immer
häufiger um Henri Ruzicka. Ich ertappte mich bei
Tagträumen, in denen die
wenigen Dinge, die ich über sein Leben wusste, sich einander
näherten und dann
wieder auseinanderdrifteten, sodass ich sie nicht fassen konnte."
Nach unruhigen Wochen folgt er dessen geheimnisvollen Spuren. Er
kontaktiert
Anna Prinz, die immer noch unter derselben Adresse wie auf den Briefen
angegeben
wohnt, und fliegt zu ihr nach Deutschland.
Feinfühlige Charakterstudien
Joel Haahtela hat einen psychologisch eindrucksvollen und
feinfühligen Roman über
die Geheimnisse des menschlichen Lebens geschrieben, der gleichzeitig
eine Suche
nach sich selbst, "nach der eigenen, einsam hallenden Stimme"
ist.
Das menschliche Interesse am Einzelnen steht bei ihm ganz klar im
Vordergrund.
Haahtela ist ein ausgezeichneter Beobachter, der sehr
feinfühlige
Charakterstudien zeichnet. Sei es das Bild der alten, vom Leben
gezeichneten
Anna Prinz, oder aber seien es die wenigen noch anderen Personen, die
der
Ich-Erzähler auf seiner weiteren Reise trifft, denn Pirna wird
nicht die letzte
Station seiner Suche sein. Über eine kurze Zwischenstation am
Gardasee in
Italien gelangt er schließlich nach Kreta in eine
wunderschöne Meeresbucht, an
deren Strand sich einst etwas Entscheidendes zugetragen haben muss und
dessen
weitreichende Folgen heute noch spürbar sind, zum Beispiel in
dieser Erbschaft.
Doch erst nach der Rückkehr in seine finnische Heimat
lüftet sich das
Geheimnis um den Zusammenhang zwischen ihm und Henri Ruzicka.
Haahtela, dessen Romane bereits mehrmals für Literaturpreise
nominiert wurden,
vermag auf großartige Weise, in leisen Tönen,
beinahe wie die sphärische
Musik seines Landsmannes Sibelius, den Romanfiguren unerwartet eine
neue,
unvorhergesehene Marschrichtung zu verleihen. Ständig
lässt er seine
Protagonisten philosophieren: "... was war überhaupt
wirklich? War die
Wirklichkeit der Moment jener vergangenen Geschehnisse, oder lag sie
hier, im
Heute, (...) oder erst später, als die Dinge begannen, in
seiner Erinnerung und
seinen Träumen nach Gestalt und Erklärung zu suchen.
Oder entstand
Wirklichkeit erst jetzt, da ich diese Worte schrieb?"
Erinnerungen überlagern
und vermischen sich, und erst auf den letzten Seiten vermag der
Ich-Erzähler
das eigentliche Leben bzw. den Ursprung des Rätselhaften zu
entflechten und
freizulegen.
In Sandra Doyen hat der Autor eine eindrucksvolle Übersetzerin
gefunden, obwohl
die Rezensentin nicht feststellen kann, wem der kleine Fehler
unterlaufen ist,
die wunderschöne "Sächsische Schweiz"
- das
Elbsandsteingebirge -, das der Ich-Erzähler gemeinsam mit Anna
Prinz aufsucht,
als Erzgebirge zu bezeichnen. Bis auf diese geografische Unkorrektheit
eine
beeindruckende Übertragung ins Deutsche, welche die
geheimnisvolle Aura, den "sich
langsam im Nebelschleier hüllenden Horizont"
großartig wiederzugeben
vermag.
Fazit:
Auf der Suche nach den Spuren eines Unbekannten, der dem namenlosen
Ich-Erzähler
eine Erbschaft hinterlassen hat, stößt jener auf ein
entscheidendes Schlüsselerlebnis
aus seiner eigenen Kindheit.
Großartige Literatur aus Finnland!
Nachgestellt sei dieses wunderschöne Gedicht aus der Feder von
Carlo Karges
(1951-2002), einem Mitglied der deutschen Rockgruppe "NOVALIS", weil
es den Ton und auch den Inhalt des Romans eindrucksvoll wiedergibt:
Schmetterlinge
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken
schmecken,
der wird im Mondschein
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.
Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr,
zum Weisen,
und kann in einer Stunde
durchs ganze Weltall reisen.
Er weiß, dass er nichts weiß,
wie alle andern auch nichts wissen,
nur weiß er, was die anderen
und er noch lernen müssen.
Wer in sich fremde Ufer spürt,
und Mut hat sich zu recken,
der wird allmählich ungestört
von Furcht sich selbst entdecken.
Abwärts zu den Gipfeln
seiner selbst blickt er hinauf,
den Kampf mit seiner Unterwelt
nimmt er gelassen auf.
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie Wolken schmecken,
der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.
Der mit sich selbst in
Frieden
lebt,
der wird genauso sterben,
und ist selbst dann lebendiger
als alle seine Erben.
(Heike Geilen; 04/2008)
Joel
Haahtela: "Der
Schmetterlingssammler"
(Originaltitel "Perhoskerääjä")
Aus dem Finnischen übersetzt von Sandra Doyen.
Piper Nordiska, 2008. 171 Seiten.
Buch
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