"Die Gretchenfrage: 'Nun sag' wie hast du's mit der Religion?'"
Herausgegeben von Konrad Paul Liessmann
Fausts
Dilemma
Im Rahmen des sogenannten 11. Philosophicums in Lech im Jahr 2007
stellten sich
renommierte Philosophen, Religions- und Kulturwissenschaftler,
Theologen und
Physiker diversen aktuellen Fragen: "Wie ist zwischen
Religiosität,
Dogmatismus, Fanatismus und Fundamentalismus zu unterscheiden?!" -
"Was bedeuten religiöse Gefühle und welchen
Stellenwert haben sie im öffentlichen
Leben?" oder: "Welche Rolle spielen die alten Konflikte zwischen den
Religionen für das Zusammenleben in der globalisierten Welt?"
Der Wiener
Professor für Philosophie analysiert eingangs kurz den
entscheidenden 'Faust'-Dialog,
in dem Goethes Gretchen ihren angehenden Geliebten quält -
wobei Faust alle
Sophistereien versucht, um gerade die direkte Frage nicht direkt
beantworten zu
müssen. Aber naive Gläubigkeit lässt sich
durch Vernunft nicht überlisten.
Faust "kann nicht mehr glauben und ist doch kein
kämpferischer
Atheist" (Liessmann).
Bleibt zu hoffen, dass die Frage nach dem Glauben heutzutage nicht mehr
zum
frivolen Vorspiel gehört - denn den 'Faust I' kann man
aufgrund dieser
Konstellation noch bestenfalls als Tragikomödie, eher noch als
Farce
interpretieren! Leider hat aber Religion immer noch eine solche
unverschämte
Autorität in der Gesellschaft, dass
unverhältnismäßig viel Zeit und Energie
mit "Gottesbeweisen" zerredet wird. Durch die Gottesprojektion gab und
gibt sich der Mensch eine transzendierende Dimension, wie sie an
Jämmerlichkeit
nicht zu überbieten ist. Religion hat sich schon immer als
"kompensatorisches Bewusstsein" entgegen unserem existenziellen
Minderwertigkeitskomplex erwiesen. Dabei ist eben Religionskritik ein
Instrument
der Desillusionierung. Die Kombination von Religion mit der Sinnfrage,
mit Moral
und Macht lässt sie nur scheinbar unangreifbar erscheinen. Man
muss es Faust
respektive Goethe als Schwäche ankreiden, dass er zu keiner
konsequenten
Religionskritik anhob - man kann aber auch annehmen, dass ihm Religion
ein zu
unerhebliches Thema war. Jedenfalls betont Liessmann in seinem Vorwort:
"Das
Gebot der Toleranz verlangt aber nicht, jene religiösen
Haltungen zu
akzeptieren oder gar zu privilegieren, die die Vorstellung von der
individuellen
Freiheit und Würde des Menschen restringieren oder
überhaupt in Frage
stellen." Damit ist die Problemlage spezifiziert verlagert
von der
Frage nach Religion und Gott pauschal hin zu den Religionen und
diversen
Gottesvorstellungen im praktischen Leben.
Jan Philipp Reemtsma, Professor für Literaturwissenschaft an
der Universität
Hamburg, gibt uns eine fundamentale Definition: "Eine
säkulare
Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Religion zwar im privaten
wie im öffentlichen
Raum gelebt werden kann, dass der öffentliche Raum aber durch
keine Religion
bestimmt wird. Auch wo Religion öffentlich stattfindet, ist
sie
Privatsache." Dementsprechend scheint die BRD eine
vorbildliche säkulare
Gesellschaft zu sein. Nach dem bundesdeutschen Grundgesetz Art. 3 (3)
darf
niemand "wegen seines Glaubens, seiner religiösen
Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden." Nach Art. 4 (1) sind
die "Freiheit
des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen
und
weltanschaulichen Bekenntnisses ... unverletzlich." Nach Art.
4 (2)
wird die "ungestörte Religionsausübung ...
gewährleistet."
Mit Art. 7 wird dieses säkulare Prinzip allerdings
entscheidend verletzt:
indem das "gesamte Schulwesen (...) der Aufsicht des Staates"
untersteht (Art. 7 (1)) und die "Erziehungsberechtigten ...
das Recht
... haben ... über die Teilnahme des Kindes am
Religionsunterricht zu
bestimmen" (Art. 7 (2)), werden hier schon die Rechte des
Kindes massiv
eingeschränkt. Eine überproportional privilegierte
Position wird den
Religionen mit Art. 7 (3) eingeräumt: "Der
Religionsunterricht ist in
den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien
Schulen ordentliches
Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der
Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen der
Religionsgemeinschaften erteilt." Damit ist wohl das Prinzip
verletzt,
dass es in einer säkularen Gesellschaft keinen privilegierten
Zugang zur
Wahrheit gibt, ebenso kein Deutungsmonopol für das Wesen der
Existenz.
Allerdings behauptet Religion ein Sinndefizit säkularer
Gesellschaften und
verlangt, als transzendierender Sinngarant respektiert zu werden. Und
da liegt
genau das Problem! Es zeugt schon von sehr großer Toleranz
für eine säkulare
Gesellschaft, dass z.B. das Grundgesetz der BRD laut Präambel "Im
Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen"
installiert
wurde. Geradezu albern wird das offiziöse Gebaren allerdings
dadurch, dass man
Politiker bei ihrem Amtseid danach einschätzt, ob sie die
überkommene Formel "So
wahr mir Gott helfe" dazumurmeln oder nicht. Und in diese
ganze
ideologische Zwangsjacke hat sich die BRD ohne ersichtlichen
vernünftigen Grund
begeben!
Leider sind viele Menschen mit einem Wertepluralismus
überfordert, sie möchten
eine vereinfachte Weltsicht, welche etwa die Religion bietet mit klaren
Strukturen und Sanktionen im Diesseits und
im Jenseits. Religion
unterbindet
jegliche Kommunikation, weil der Glaube an etwas Vorgegebenes eben
Schweigen über
alles Übrige bedingt. Freiheit bedeutet aber für
Reemtsma, dass der Mensch
ohne religiöse Vorschriften in der Lage ist, moralische
Kriterien für sein
Leben zu entwerfen! Religion ist ohnehin nur eine Art Unfall der
Evolution, eine
Aberration, eine Neurose, eine Hysterie - quasi eine manisch-depressive
Hybris!
Für den Rechtsphilosophen Peter Strasser ist der Mensch ein "transzendenzstrebiges
Wesen", welches nach der "Utopie der absoluten
Wahrheit"
strebt. Suspekt erscheint dann aber doch sein Fazit: "Philosophieren
heißt,
eine Art religiöser Haltung einzunehmen" - will
eigentlich bedeuten: "trans-evolutionäre
Konzepte" zu entwickeln. Und warum muss dies eigentlich in
Religion
verdumpfen?!
Martin Seel, Professor für Philosophie an der
Universität Frankfurt/Main,
definiert Religion quasi als "Teilhabe an einem Sinn, den die
Menschen
... allein nicht gewähren und garantieren können."
Andererseits
mangele es den "Angehörigen einer säkularen
Lebensform (...) ohne dass
sie es als einen Mangel empfinden", an einem "Verlangen
nach
Erlösung". Diese schon für Christen
herausfordernden Gedanken
gewinnen eine extreme Brisanz für Muslime. Eduan Aslan,
Professor für
islamische Religionspädagogik an der Universität
Wien, thematisiert die
Konfrontation des Islam mit säkularisierten Gesellschaften in
Europa - und befürchtet
gar eine Desäkularisierung. Dabei hat er die These: "Säkularismus
sichert die Zukunft der Religionen - indem man eben auf Demokratie,
Dialog und
Toleranz setzt."
Mit dem Toleranzbegriff speziell setzt sich Rainer Forst, Professor
für
politische Theorie und Philosophie an der Universität
Frankfurt/Main,
auseinander. Er fordert eine "Toleranzbegründung,
die im Streit
zwischen Skeptizismus und Religion agnostisch bleibt und zugleich
wechselseitig
bindende Grundsätze enthält." Und wichtig
für die Praxis: "auf
keinen Fall darf auf geschmacklose und eine Religion verletzende
Darstellungen
mit Verboten oder Gewalt reagiert werden." Wenn das die
Muslime beim
Karikaturenstreit beherzigt hätten, wäre die Welt
schon um einiges schöner!
Winfried Schröder, Professor für Geschichte der
Philosophie an der Universität
Marburg, beschäftigt sich mit der Autonomie der
Moral
gegenüber religiösen Überzeugungen.
Dabei gelangt er nach eingehenden Quellenstudien zu der Einsicht, "dass
die Annahme der Existenz eines personalen und allmächtigen
Gottes die Moral
untergräbt, statt sie zu stützen." Es ist
ja eigentlich auch
plausibel, dass jemand, der nur in Ergriffenheit vor einem strafenden
Gott,
moralisch zu handeln bereit wäre, ein fundamentaler Heuchler
ist.
Heutzutage gibt es laut Friedrich Wilhelm Graf, Ordinarius für
systematische
Theologie und Ethik an der Universität München, eine "bunte
Göttervielfalt
und analog Glaubenspluralität" - er spricht gar von
einer "Diversifikation
des Götterangebots", sieht "starke
Tendenzen religiöser
Globalisierung" und "Spezialgötter
bestimmter sozialer
Gruppen". Aber, lieber bemühter Mitmensch, bei
seinem Fazit muss sich
Graf schon fragen lassen, wie ernst er eigentlich genommen werden
möchte, wenn
er schreibt: "Spätestens am Jüngsten Tag
muss jeder sich für seine
individuelle Götterwahl, Gottesselektion rechtfertigen."
In welcher
Sekte sind wir denn hier gelandet?!
Und überdies: wenn Graf "klassisch in der Sprache
des liberalen
Bildungsprotestantismus" behauptet: "Religion dient
im
gelingenden Fall der Persönlichkeitsbildung" - dann
muss hier
schlichtweg die Gegenthese postuliert werden: Religion be- und
verhindert bzw.
vereinseitigt bzw. beschränkt jegliche
Persönlichkeitsbildung! Was
Robert
Menasse schließlich noch über Goethes 'Faust' zum
Ausdruck bringt, gilt wohl für
die gesamte Religionsdebatte: "Es ist dazu bereits alles
gesagt worden,
nur noch nicht von allen." Und so vermehren sich die
Bücher zu dieser
Thematik, welche man eigentlich totschweigen sollte durch Ignorieren.
Wenn ein
Gretchen so eine dämliche Frage stellt, dann könnte
man ihr auch sagen:
verschone mich damit, es gibt noch andere, schönere Frauen -
und wichtigere
Fragen! Faust hat hier versagt - es gibt keinen Grund, es ihm immer und
immer
wieder gleich zu tun. Das vorliegende Buch könnte
Anschauungsunterricht sein,
auf welchen unterschiedlichen Gebieten wir uns vor den
religiösen Einschüchterungen
hüten sollten.
(KS; 07/2008)
"Die
Gretchenfrage: 'Nun sag' wie hast
du's mit der Religion?'"
Herausgegeben
von Konrad Paul
Liessmann.
Paul Zsolnay Verlag, 2008. 256 Seiten.
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