Julien Green: "Erinnerungen an glückliche Tage"
Ein
Amerikaner aus Paris
Als "ein Amerikaner aus Paris" bezeichnet sich
Julien Green,
auf Gershwins Tondichtung anspielend, an einer Stelle seiner
Autobiografie
selbst. Dies trifft sowohl die Sachlage als auch seine nationalen
Gefühle
perfekt.
Green wurde im Jahr 1900 in Paris als Sohn us-amerikanischer Eltern
geboren und
wuchs dort auf. Mit wenigen "amerikanischen" Unterbrechungen lebte er
in der französischen Hauptstadt, und vor allem seine dort
verbrachte Kindheit
und Jugend prägten ihn intensiv.
In seinen 1942 im us-amerikanischen Exil verfassten "Erinnerungen an
glückliche
Tage" beschreibt der Autor eben jene Jahre als kleiner Junge und
schließlich
Heranwachsender und junger Mann, die ihm zur Zeit der Niederschrift
schon sehr
fern erscheinen, hat sich doch in der Zwischenzeit Schreckliches
abgespielt: Ein
Großteil Frankreichs ist von Nazi-Deutschland besetzt.
Sein Geburtsland und das seiner Eltern sind, als Green in das Alter
kommt, in
dem Kinder Fragen stellen, beide traumatisiert. Frankreich hat den
Krieg von
1870 längst nicht verschmerzt und erst recht nicht den Verlust
Elsass-Lothringens; seine Eltern, Südstaatler, leiden noch
unter dem verlorenen
Bürgerkrieg. Diese
Themen tauchen in Greens Erinnerungen
immer wieder auf, ebenso aber bunt und abwechslungsreich
fröhliche und ernste
Kindheitsszenen,
Schulbubenstreiche neben Ängsten und schmerzlichen Verlusten.
Green schildert
seine Schulzeit und zeigt auf, wie ihm gerade der Unterricht immer
wieder
beweist, dass er sowohl US-Amerikaner als auch Pariser ist. Ohne zu
viel
Sentimentalität beschreibt er den von einem Pferd gezogenen,
für das Kind
Julien beeindruckenden Bus, der viele Jahre nach der allgemeinen
Motorisierung
noch einmal wiederbelebt wird und dann nur noch lächerlich
wirkt.
Ein guter Teil des Buchs ist dem
Ersten Weltkrieg gewidmet, wie ihn der
Jugendliche Julien Green erlebt hat, zunächst
verstört und natürlich beeinträchtigt
aus der Ferne, gegen Ende aktiv in einer us-amerikanischen Einheit. Das
Trauma
von Verdun wird hier aus regelrecht französischer Sicht
geschildert, ohne dass
sich Green der Versuchung ergibt, alle von ihm bezeugten schrecklichen
Details
wiederzugeben.
Der letzte große Abschnitt befasst sich mit Julien Greens
Aktivitäten nach dem
Abitur, begonnen mit dem Universitätsbesuch in den Vereinigten
Staaten von
Amerika und der anschließenden Rückkehr nach
Frankreich, dem schließlich
verworfenen Berufswunsch "Maler" zugunsten einer
Schriftstellerkarriere - und deren Beginn und erste Höhepunkte.
Um eine außergewöhnliche bürgerliche
Kindheit und Jugend im Paris des frühen
20. Jahrhundert handelt es sich in Julien Greens Fall ganz sicher nur
bezüglich
einiger weniger Aspekte. Der us-amerikanische Junge, der in Paris mit
fünf
Schwestern aufwächst, von denen mehrere früh sterben,
begreift früh, dass er
zwei "Heimaten" hat, nämlich außer seiner geliebten
Heimatstadt auch
das ferne Amerika, das er erst als junger Mann unmittelbar kennen
lernen
wird. Dennoch fühlt er sich ganz als Pariser. Intensiv
beobachtet er seine
Umgebung, wodurch der in seiner Autobiografie ausgebreitete Schatz an
Erinnerungen zustande kommt.
Bei diesen handelt es sich nun freilich keineswegs nur um
glückliche Tage. Die
Weltkriegserfahrungen des jungen Julien Green möchte man
niemandem wünschen,
auch wenn er nicht im Zentrum der Kampfhandlungen aktiv war. Und die
Todesfälle
in seiner Kernfamilie, die noch jung verstorbene Mutter und zu Beginn
seiner
Karriere den Vater eingeschlossen, stellen sehr schmerzliche
Zäsuren dar, ohne
Sentimentalität geschildert, doch eindringlich genug, dass
sich die tiefen
Verluste abzeichnen.
Die glücklichen Tage, das sind die Erinnerungen an eine Zeit,
als die Welt aus
der Sicht von 1942 noch vergleichsweise heil und überschaubar
war, ein allmähliches,
etwas melancholisches Verlöschen des 19. Jahrhunderts in den
Jahren vor dem
Ersten Weltkrieg, ein Neuanfang danach, der auch einer
schriftstellerischen
Laufbahn Türen öffnen konnte.
Julien Green ist eher ein Mann der leisen Töne, ein
präziser Beobachter,
dessen Schilderungen schon ihre Interpretation in sich tragen, ein
Meister eines
geschliffenen, schlichten Stils. Er bringt eine scheinbar heile Welt
zur
Auferstehung, ohne ihre Risse zu verschweigen, und offenbart dem
ausländischen
Leser ein Paris, dessen Reste wiederzuentdecken man nach der
Lektüre versucht
sein wird.
(Regina Károlyi; 09/2008)
Julien
Green: "Erinnerungen an glückliche
Tage"
(Originaltitel "Souvenirs des jours heureux")
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Hanser, 2008. 269 Seiten.
Buch
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Julien
Green wurde am 6.
September 1900 in Paris als Kind protestantischer, aus den
Südstaaten gebürtiger
Eltern, geboren. Er genoss eine protestantische Erziehung und wuchs
zweisprachig
auf.
1916 konvertierte er zum
Katholizismus. Nach einem Studienaufenthalt in
den USA
kehrte er 1922 nach Paris zurück; wo dann auch die ersten
bedeutenden Veröffentlichungen
erschienen, darunter die Romane "Mont-Cinère" (1926) und
"Leviathan"
(1929). Green beschäftigte sich intensiv mit dem
Buddhismus,
doch in den
1930er-Jahren verstärkte sich die konfessionelle Bindung
wieder, und 1939
konvertierte er ein zweites Mal zum Katholizismus. Während
einer USA-Reise
wurde Green vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht und
verbrachte daher
einige Jahre als Lehrer am College in Baltimore; in
dieser Zeit
erschienen diverse Artikel und Übersetzungen. 1945 kehrte
Green nach Paris zurück.
In den Nachkriegsjahren veröffentlichte er zahlreiche
Theaterstücke und
Romane, sowie drei weitere Teile seines Journals, das er 1938 begonnen
hatte.
1951 wurde ihm der "Grand Prix littéraire de Monaco"
verliehen. Im
selben Jahr erfolgte die Aufnahme in die "Köngliche Akademie
von Belgien";
1971 bis 1996 war Julien Green Mitglied der Académie
française.
Julien Green starb am 13. August 1998
in Paris.
Leseprobe:
V
Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke und jene Zeit mit dem
Verhalten heutiger Kinder vergleiche, wird mir klar,
dass die Jungen und Mädchen von 1940 gefunden hätten,
dass wir
leicht zu unterhalten waren und vielleicht auch ein bisschen
dumm. Irgendwie gelang es uns, ohne Radio und ohne Kino
glücklich zu sein! Wir spielten Verstecken und Reise nach
Jerusalem,
tauschten Briefmarken und zerbrachen uns die
Köpfe über japanischen Geduldsspielen. Meine
Schwester
Retta, die fast zwölf war, setzte sich manchmal ans Fenster,
zählte alle Fahrzeuge auf der Straße und machte sich
in
winziger Schrift Notizen auf der ersten Seite eines großen
Schreibhefts,
das eigens dafür gekauft worden war. Sie hatte sich
vorgenommen, es vollzuschreiben, kam über die erste Seite
aber nie hinaus, weil sie es schon nach einer Stunde langweilig
fand, Trambahnen, Omnibusse, Wagen, mit einem Wort,
alles, was fuhr, zusammenzuzählen. Wäre dieser
Versuch,
den Verkehr in der Rue de Passy zu beschreiben, fortgesetzt
worden, dann wüsste ich heute, dass am 23. April 1908 zwischen
zwei und drei Uhr nachmittags fünfzehn Mietdroschken unsere
ehemalige Straße hinauf- oder hinuntergerollt sind. Das
erinnert mich an den Irrsinn von Statistiken. Sicher könnte
ein Schriftsteller sich fragen, welche Gründe es gab
für diese
Ausfahrten, und sich leichtfertige Paare ausdenken, die in
den Bois de Boulogne fuhren, oder griesgrämige Juristen, die
zu ihren düsteren Büros im Madeleine-Viertel eilten.
Als ich
Treibgut schrieb, habe ich daran gedacht.
Retta war ein stilles und nachdenkliches Kind mit einem
schönen, ernsten Gesicht, unergründlichen schwarzen
Augen und dichtem schwarzen Haar, das ihr über die Schultern
fiel.
Keines ihrer Geschwister hatte das Gefühl, sie gut zu kennen,
denn sie war wortkarg und vertraute nie irgendwem ein
Geheimnis an, doch sie war so hübsch anzusehen und von
so sanftem Wesen, dass sie immer viele Freunde hatte. Das
Merkwürdigste an ihr war ein unheimlicher Sinn für
Humor,
aber davon will ich später erzählen.
Als ich älter wurde, vertrieb ich mir eher mit literarischen
Dingen die Zeit, ich sagte mir gern, dass ich eines Tages ein
großer Schauspieler sein würde, so wie der Mann, der
bei In achtzig Tagen um die Welt die
Rolle des Mr. Fogg spielte. Mit dieser Idee im Kopf begann ich Dialoge
aus berühmten
Stücken auswendig zu lernen, um bereit zu sein für
den Tag,
da man mich auf die Bühne rufen würde. Dass ich von
allem,
was ich da aufsagte, die Hälfte nicht verstand, war nicht so
wichtig. Was ich wollte, war, in meinem Zimmer mit dem
Fuß aufstampfen, hochtönende Worte sprechen und mir
einbilden, dass ich nicht ich selbst war, sondern irgendein wichtiger
und scharfsinniger Mensch wie
Augustus
oder Cyrano
de Bergerac.
Ungeduldig wartete ich auf den Donnerstag, denn an diesem
Tag hatten wir frei, und außerdem kam unsere
Näherin,
Mademoiselle Félicité Goudeau,
frühmorgens ins Haus und
blieb bis abends nach dem Essen. Sie war mein Publikum. Ihre
Rolle war ziemlich leicht, denn sie bestand einfach darin, wie
gewöhnlich ihre Arbeit zu verrichten, während ich
für sie
deklamierte. Zuweilen geschah es, dass ich mit der Faust vor
ihrem Gesicht herumfuchtelte oder einen Dolch über ihrem
Kopf schwang, aber selbstverständlich wusste sie, dass alles
Theater
war, und nahm die Sache gelassen.
Sie war ein schüchternes kleines Geschöpf mit grauen
Locken und trippelte so geschwind von einem Zimmer ins
andere, dass man unvermeidlich an eine Maus denken musste
oder an irgendein anderes verhuschtes Tier. Meistens trug sie
eine schwarze Schürze und lief mit Stecknadeln zwischen den
Zähnen umher. Das störte mich ein bisschen; mir
wäre lieber
gewesen, sie hätte dagesessen und sich nicht gerührt.
Eines
Tages sagte ich das auch, und daraus entspann sich eine lange
Diskussion, an deren Ende meine Mutter als Schiedsrichterin
hereingerufen wurde. Natürlich befahl sie mir, den Raum auf
der Stelle zu verlassen, doch wenig später kehrte ich
zurück
und "schnaubte noch mit Drohen und Morden", im reinsten
Stil der Comédie-Française.
Wir nannten sie kurz und bündig Goudeau. Wenn sie guter
Laune war, amüsierte sie mein überspanntes
Deklamieren,
und sie lachte, den grauen Kopf schüttelnd, in sich hinein,
doch manchmal zeigte sich bei ihr eine gewisse Reizbarkeit,
die meine Mutter auf irgendeine jugendliche Liebesenttäuschung
zurückführte. (...)