Günter Grass: "Beim Häuten der Zwiebel"
Über
dieses Buch sind bereits unzählige Rezensionen geschrieben
worden, deren Ergebnis hier nur als Tendenz wiedergegeben werden soll.
Aufsehenerregend war natürlich das Eingeständnis des
Autors, sich in den letzten Kriegswochen zur Waffen-SS gemeldet zu
haben. Überblickt man die stattgefundene Diskussion, gewinnt
man fast den Eindruck, als reduziere sich Grass' Autobiografie
auf diese kurze Periode in seinem Leben. Dies zu tun, ist genauso
sensationslüstern und dumm wie die meisten politischen
Brandreden, die der Autor in den letzten Jahrzehnten in der
Öffentlichkeit ablassen zu müssen glaubte. Dass er
auch jetzt noch in seinem Buch die Person Adenauers und die von ihm
geprägte Zeit in dümmlich-rechthaberischer Weise als
undemokratisch abtut, belegt sein offensichtliches politisches
Unvermögen, auch wenn er zu jedem wohlfeilen Thema nicht nur
nicht vor die Kamera gezerrt werden musste, sondern sich geradezu
danach drängte.
Es ist also meines Erachtens unzulässig, den Autor an diesen
wenigen Seiten "aufzuhängen", auch wenn es ihm wohl sechs
Jahrzehnte lang am nötigen Mut gefehlt hat. Genauso wenig
überzeugend sind allerdings Rezensionen, die in seiner
Autobiografie wieder ein Meisterwerk sehen wollen, zumal ein
dichterisches. Hier sollte die Kritik einsetzen: Vorgeworfen wurde
Grass, dass er sich in entscheidenden Momenten angeblich nicht mehr
erinnere, "die Ränder zerfaserten" und er Ausflüchte
benutze. Nein, dies sind keine Ausflüchte, der Autor scheint
sich, will man zumindest seinen eigenen Worten glauben,
überhaupt an nichts, nie und niemanden zu erinnern. Dass dies
offensichtlicher Unsinn ist, liegt auf der Hand, scheint jedoch einem
literarischen Kunstgriff verpflichtet zu sein, der ermüdet und
in seiner Larmoyanz unglaubwürdig wirkt. Immer und immer
wieder wird von dem "Ich" gesprochen, das gleichzeitig zum "Er" wird
und dies immer wieder zweifelnd, abwägend und sich nicht
entscheiden könnend. Einmal, zweimal, vielleicht auch mehrmals
ist ein solcher Kunstgriff zu ertragen, sogar als eine Art Dauerscherz
hinzunehmen, als der er durchaus nicht gedacht ist, macht er den Leser
doch nur ärgerlich. Genauso ärgerlich wirken die bei
Grass ansonsten durchaus geschätzten
"Neologismen", weil auch sie hier meist bemüht wirken, an den
Haaren herbeigezogen, teils nur schwülstig. Ein Stil, den man
von seiner "Danziger Trilogie", von der "Blechtrommel" oder dem
"Treffen in Telgte" nicht gewohnt ist, auch nicht vom "Krebsgang", und
ihn nicht erwartet. Ein pausenloses
Um-das-Thema-Herumbramarbasieren. Dass der Autor daneben noch
öfters Schwierigkeiten mit dem Genitiv und auch mit korrektem
Latein hat, sei nur am Rande vermerkt - was, um Himmels Willen, soll
dann das Lob der Genitiv-Metapher, die den Dichter
auszeichne? Und gerade die selbstkritische Schilderung einer
Aufnahmeprüfung und die kritikfreie
Wertschätzung von Gedichten, die alle an fortgeschrittener
Metaphersucht krankten, hätten ihm genug Warnung
sein müssen, fällt er doch beim Beschreiben seiner
Jugend in den Duktus seiner Jugend zurück. Allerdings wirft
dies auch kein gutes Licht auf die Lektoren, die beim Anblick des
Nobelpreisträgers vermutlich vorauseilend weiche Knie bekommen
haben. Seiner Literatur tut das nicht gut.
Und doch: Man liest sich fest, erlaubt sich trotzdem hin und wieder,
ein paar Seiten zu überschlagen, wenn der Autor allzu sehr in
die Breite geht oder sich im adjektivischen Unterholz zu verlieren
droht. Man liest sich fest, weil es sich um ein spannendes Buch
handelt, das ungemein anrührende Szenen beschreibt, auch wenn
sie Dichter und Leser schmerzen dürften. So die Schilderung
der Kälte und Distanz und der späteren Duldung des
Vaters, die erst auf den letzten Seiten ihre möglichen Motive
durchscheinen lässt. Im Gegensatz zur abgöttisch
geliebten Mutter, deren Herkunft, Wesen und selbstlose Liebe im Sohn
noch heute nachwirken. Szenen, die haften bleiben, wie die des Knaben,
der als etwas harmlosere Ausgabe eines Inkassounternehmers sein
schmales Budget auffüllt. Auch und natürlich die
Panik des Hitlerjungen, der kurz, aber brutal die völlig
unerwartete "Erfüllung" seiner irrationalen Träume in
der Waffen-SS erlebt. Weniger das Buhlen um die angebliche Erinnerung
an den jungen
Ratzinger,
der sich dem Nobelpreisträger - zumindest bisher - verweigert
hat. Aber stark der Abgang im letzten Kapitel, wo nicht nur die Kunst
des Dichtens ihren Durchbruch feiert, sondern Grass auch zur Sprache
zurückfindet, die dem Sujet angemessen erscheint. Hier und
gerade hier ist man erfreut, das Werk nicht in der Mitte der
Lektüre weggelegt zu haben.
Insgesamt also eine ambivalente Autobiografie, gerade auch weil man die
hinter den vielen Manierismen versteckten Kindheitserinnerungen doch
eigentlich recht gerne noch unverstellter gelesen hätte. Es
ist jedoch auch und gerade für den Leser wie beim
Häuten einer Zwiebel, selbst wenn Grass diese Metapher
für sein Erinnern reklamiert: Erst wenn man die Frucht Schale
um Schale von sprachlichem Schwulst und ärgerlichen Fehlern
befreit hat, kommt man zu einer fesselnden Lektüre.
Ein bisschen weniger wäre allerdings mehr gewesen.
(Horst Boxler; 07/2008)
Günter
Grass: "Beim Häuten der Zwiebel"
dtv, 2008. 480 Seiten.
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Hörbuch:
Steidl, 2007. 16 CDs mit Begleitheft in Leinenkassette.
Gelesen von Günter Grass.
Gesamtspielzeit ca. 15
Stunden.
Hörbuch-CDs
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Weitere
Buchtipps:
Günter Grass: "Die Box. Dunkelkammergeschichten"
"Es war einmal ein Vater": Eine fiktionalisierte
Autobiografie,
in der acht Kinder über ihren Vater berichten.
Eigentlich ist es eine altmodische Kastenkamera, wie man sie
früher
Jugendlichen zum Geburtstag schenkte. Aber mit der Agfa-Box der alten
Marie hat
es etwas Besonderes auf sich: Seit sie in Berlin Krieg und
Feuerstürme überdauert
hat, blickt sie vorwärts und rückwärts.
Genauer gesagt: Die mit ihr
geknipsten Aufnahmen zeigen Zukünftiges und Vergangenes,
zeigen bei einem
Stapellauf den tragischen Untergang des Schiffes oder am
Wohnzimmertisch eine Männerrunde
aus uralten Zeiten. Lara entdeckt auf einem Schnappschuss das Pferd,
das sie
sich wünscht, Nana sieht sich mit Mutter und Vater, die
getrennt leben, vereint
auf dem Kettenkarussell durch die Lüfte sausen.
"Mariechens Wünsch-dir-was-Box"
sagen die Kinder.
Marie ist Fotografin. Sie besitzt eine Leica, auch eine Hasselblad.
Aber wenn
der Schriftstellerfreund auf Motivsuche für seine
Bücher "Knips mal,
Mariechen" sagt, arbeitet sie nur mit der Box. So schreiben
die Box und
der Schriftsteller ihre wahren und ihre Dunkelkammergeschichten. Jahre
später
sitzen die acht Kinder, die nun erwachsen sind, zusammen und erinnern
sich -
achtstimmig, jedoch widersprüchlich, freundlich, kritisch und
manchmal
anklagend an den "Alten" und seine "starken" Frauen, ihre
Mütter,
an ihre von Marie und ihrer "Zauberbox" begleitete Kindheit.
Günter Grass schreibt in diesem Buch, das durch die "Optik"
der
Spezial-Kamera eine zweite Erzählebene und eine unerwartete
Perspektive
gewinnt, seine Autobiografie fort. Zugleich hat er damit der Fotografin
und
Freundin Maria Rama, die ihn und seine Familie ab Mitte der
1950er-Jahre bis zu
ihrem Tod 1997 begleitete, ein heiteres Denkmal gesetzt. (Steidl)
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Günter
Grass: "Ein Schnäppchen
namens DDR"
Deutsche Einheit 1990 - fünf kritische Beiträge des
Nobelpreisträgers für
Literatur.
Günter Grass hat sich immer als Verfassungspatriot begriffen.
Die leichte Liebe
zu ewigen Werten, die auch "national" heißen und sowieso
schnell die
Fahne wechseln, das ganze dröhnend aufgeblähte
Vaterland waren und sind ihm
fremd und viel zu dürftig. Sein
Patriotismus
stützt
sich auf die beste
Verfassung, die es in Deutschland je gegeben hat: das Grundgesetz.
Mit der Einheit 1990 wurde es verletzt. Davon handeln die in diesem
Buch
gesammelten Reden eines "vaterlandslosen Gesellen":
im Februar
des Einheitsjahres in der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten oder
im
Oktober im Reichstag in Berlin vor den Fraktionen der
"Grünen
und Bündnis
90". (dtv)
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Uwe
Johnson, Anna Grass, Günter Grass: "Der Briefwechsel"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Arno Barnert. Mit einem
Bildteil.
1959 lernen sich Günter Grass und Uwe Johnson auf der
"Frankfurter
Buchmesse" kennen, kurz nach Erscheinen der "Blechtrommel" und
der "Mutmaßungen über Jakob". 1960 halten sie
gemeinsame Lesungen.
Ihr Briefwechsel beginnt 1961 und endet 1984 mit Johnsons Tod.
Mit dem Umzug der Familie Johnson nach New York, Mitte der
1960er-Jahre, setzt
die intensivste Phase der Korrespondenz von Uwe Johnson mit
Günter und mit Anna
Grass ein. Die vorliegende Ausgabe präsentiert den gesamten
Briefwechsel: über
80 Briefe, Postkarten, Telegramme, ergänzt durch Anmerkungen,
Materialien und
einen umfangreichen Bildteil.
Es geht um Eisenbahngeschichten und Autofahrten, Kriminalfilme und
Geburtstagsfeiern, hübsche Kellnerinnen
und schwarze Hüte, die Gefahren von Post- und
Fernmeldeämtern und um die
legendäre Kommune I, von deren antiamerikanischen Umtrieben
auch Uwe Johnson
berührt wird - die Kommunarden benutzen seine Berliner
Wohnungen monatelang als
operative Basis.
Das Briefgespräch zwischen Günter
Grass, Anna Grass und Uwe Johnson spiegelt das literarische, politische
und
private Umfeld wider, in dem sich die Freundschaft der beiden Familien
und
zweier großer Schriftsteller entwickelt hat. (Suhrkamp)
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