Didier Goupil: "Endstation Ritz"
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"Kibitzer" ist eine jiddische Bezeichnung für einen
Kartenspieler,
"der nicht mitspielt, der aber trotzdem ungeniert beobachtet und vor
allem
kommentiert", ist auf den ersten Seiten dieses kleinen, aber
ungeheuer
eindringlichen Werks des französischen Autors Didier Goupil zu
lesen. Doch
"Madame" - wie sie im Buch genannt wird - kommentiert nichts, lebt
überhaupt
völlig zurückgezogen im Sechs-Sterne-Hotel "Ritz" in
Paris. Aber sie
beobachtet tagein, tagaus aus dem Fenster ihres kleinen - des kleinsten
-
Hotelzimmers heraus das Treiben auf der Place Vendôme mit der
berühmten
Triumphsäule. Kommentieren lässt sie
ausschließlich das Radio, das
ununterbrochen läuft - auch wenn sie schläft.
Eine feine Dame, die ihre Teesorte passend nach Tag und Stimmung
wählt und
extra aus der Feinkostabteilung des renommierten Kaufhauses, (es bleibt
anzunehmen, dass es - obwohl nicht näher benannt -
das "Les Galeries
Lafayette" ist), an sie geliefert wird.
Nach dem täglichen
Teeritual lässt sie sich ihr Bad
ein. Auch dies rituell. "Sich
zu duschen hingegen würde ihre Kräfte
übersteigen."
So liest sich dieses kleine Büchlein mit der sonderbaren
Aufmachung an. Ein,
zwei Sätze auf jeder Seite, wie hingetupft, beinahe Lyrik.
Sonderbar, auf den ersten Blick.
Eigenwillig.
Warum wohl?
Man blättert vor.
Kaum Veränderung - wenig Text auf jeder Seite.
Manchmal gar nur ein Wort oder ein Satz.
Also wieder zurück, an den Ausgangspunkt.
Und wirken lassen ...
Als "Madame" badet, kommen unbeschwerte Erinnerungen. An die Orte
ihrer Kindheit: Mexiko oder die endlose Steppe Usbekistans, an
Eidechsen in der
Sonne, Palmen.
Nachmittags geht "Madame" aus, nie ohne ihre langen,
geknöpften
Handschuhe und einen großen Organdy-Hut. "Es ist
ihr ein Bedürfnis,
sich zu verlaufen. Sich völlig zu verlieren."
Manchmal besucht sie eine Galerie. Man merkt, dass sie sich auskennt
mit der
Moderne. Kunst ist und war für sie lebenswichtig. "Ohne
sie wäre sie
bereits gestorben, nicht vor Hunger, sondern vor Kälte."
Und so verstreicht der Tag, und der Leser ist der stumme Begleiter der
alten,
eleganten Frau, ihrer Rituale und ihrer Gedanken. Kurze Sätze
von exorbitanter
Tiefe und zu hinterfragender Ambivalenz. Immer mehr verdichtet sich der
Stoff,
nicht visuell sondern inwendig.
Erinnerungen an Monsieur - ihren Ehemann -, an Partyleben, Champagner
und
Campari an der Côte d'Azur, Schiurlaub in Italien und
Österreich.
Beneidenswert.
Doch da muss noch etwas passieren.
Zu viel Harmonie für die einsame, traurige Frau.
Es passiert!
"In Spanien bombardierte man Anarchisten, und Kinder. In
Deutschland
verbrannte man Bücher und trampelte in Stiefeln auf Bildern
herum."
Der Ehemann entpuppt sich als Faschist, verrät seine Frau, die
daraufhin
deportiert wird. Nummer 168 478, in ihr Handgelenk eingebrannt, Block
30.
"Sie hatten ihr die Kleider genommen, ihr Haar und sogar ihren
Namen."
Jetzt bekommen der Hut und die langen Handschuhe einen Sinn.
Seitdem ist nichts mehr wie es war. Zwar befreit, aber nur noch
Kälte.
Sie kehrt nach Paris zurück - hierher ins "Ritz".
Äußerlicher Luxus, aber innere Leere - Endstation.
"Endstation Ritz" - der Titel könnte nicht treffender sein.
Großartige
Literatur aus Frankreich in einer überwältigenden,
dramatischen Dichte, unter
deren bruchstückhafter Oberfläche es gewaltig
brodelt. Ines Schütz hat Didier
Goupils Ton eindrucksvoll ins Deutsche übertragen.
Fazit:
Bedrückend, dunkel, aber trotzdem von Lichtblicken durchzogen.
Der 1963 in
Toulouse geborene Schriftsteller und Lehrer Didier Goupil,
der auch für Theater und Film schreibt, zeichnet ein ganzes
Jahrhundert auf nur
90 Seiten.
Den Namen sollte man sich merken! Ein Buch, das lange nachwirkt.
Unbedingt
lesenswert!
(Heike Geilen; 03/2008)
Didier
Goupil: "Endstation Ritz"
(Originaltitel "Femme du monde")
Aus dem Französischen von Ines Schütz.
Haymon-Verlag, 2008. 99 Seiten.
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Didier Goupil lebt in Toulouse. Prosaveröffentlichungen seit 1995. Für sein erstes Werk, den Erzählband "Maleterre", erhielt er den "Prix Thyde Monnier de la Société des Gens de Lettres" und den "Prix Cino del Duca".