Dagmar von Gersdorff: "Goethes Enkel"

Walther, Wolfgang und Alma


Das Scheitern an einem großen Namen

Goethe sah nur eines seiner Kinder heranwachsen, seinen Sohn August. Dieser konnte die an seinen Namen geknüpften hohen Erwartungen nicht erfüllen: Er war ein tüchtiger höfischer Beamter, hatte jedoch nichts vom Talent seines Vaters geerbt.
Als August die kapriziöse Ottilie von Pogwisch heiratete und diese ihm drei Kinder schenkte, zwei Söhne und mit einigen Jahren Abstand eine Tochter, gingen die Erwartungen bezüglich einer Dichterdynastie naturgemäß auf diese Kinder über. Johann Wolfgang von Goethe befasste sich vor allem mit den Jungen sehr viel und schenkte ihnen eine glückliche, anregende Kindheit.

Dagmar von Gersdorff befasst sich vor allem mit den Jahren, die Walther, Wolfgang und Alma von Goethe zusammen mit dem Großvater verlebten. Sie beschreibt, wie aufmerksam und liebevoll der Dichterfürst auf die Jungen einging, und wie er ihnen auf spannende und auf sie persönlich zugeschnittene Weise eine Fülle an Wissen vermittelte, das ihren Lebensjahren im Grunde weit voraus war. Doch auch das gesamte Umfeld von Goethes Enkel wird detailliert geschildert: das nach wie vor recht provinzielle Weimar mit seinem Streben nach einem repräsentativen kulturellen Leben, vor allem aber die nähere und weitere Verwandtschaft, die ebenfalls Einfluss auf die Kinder ausübte. Eine zentrale Rolle nimmt die Mutter ein, sprunghaft, launisch, ständig neu verliebt, verschwenderisch. Die Autorin weiß anhand vieler Quellen aufzuzeigen, wie wenig August und Ottilie von Goethe zueinander passten. Vor allem Briefe zeigen, dass Ottilie August vor allem wegen dessen von ihr verehrten Vaters geheiratet hat.

Als August noch vor seinem Vater stirbt, sind die Kinder scheinbar kaum betroffen, und Ottilie fühlt sich erleichtert, war ihr August doch nur eine lästige Bürde und Einschränkung ihrer Liebschaften.
Die Welt bricht für alle, Mutter und Kinder, zusammen, als Goethe der Tod ereilt. Dieser hat das Erbe umsichtig geregelt, damit die leichtlebige Mutter nicht die materielle Zukunft der Kinder ruinieren kann. Vor allem um eine geregelte Ausbildung muss sich der Großvater gesorgt haben. Aber die Familie tut sich schwer mit den Nachlassverwaltern, denn diese verwehren ihr sogar den Zutritt zu den Räumen des Großvaters. Nun fehlt der besonnene August. Harte Zeiten brechen an, zumal weder Walther, der homosexuell veranlagte Musikfreund, noch der wie der Großvater zu Jura und Dichtertum strebende Wolfgang auch nur annähernd Brillanz auf ihren Gebieten vorweisen können. Alma stirbt sechzehnjährig an Typhus. Ihre Brüder führen das typische Leben von Menschen, die an den Erwartungen zerbrechen, die man ihnen aufdrängt, und die sie nicht erfüllen können. Ihre wesentliche Aufgabe meistern sie jedoch mit Bravour: Goethes Erbe, nämlich seine Häuser, Sammlungen und Handschriften, für die Nachwelt geschlossen zu bewahren.

Dagmar von Gersdorff gelingt der schwierige Spagat zwischen einem fakten- und quellenorientierten Sachbuch und einer anregenden Erzählung ganz ausgezeichnet. Einfühlsam, doch ohne Sentimentalität untersucht sie, wie es zum Scheitern - man kann es kaum anders bezeichnen - der Goethe-Brüder kam. Zunächst, das heißt, so lange sie zusammen lebten, werden die drei Kinder gemeinsam porträtiert, doch bereits hier arbeitet die Autorin die individuellen Anlagen der Jungen heraus und zeigt auf, inwiefern diese bereits Goethe, dem Großvater, auffielen. Später folgt der Leser im Wechsel den Lebenswegen der Enkel.

Wichtig zum Verständnis der Viten der Jungen sind außer jener des Großvaters vor allem die Rollen der Elternteile. Dagmar von Gersdorff hütet sich, Ottilie von Goethe explizit zu verdammen, doch die sachliche Darstellung wirft kein gutes Licht auf die Mutter von Goethes Enkeln, der ihre Liebesabenteuer und Reisen stets über ihre Kinder gingen, und die vielleicht recht unmittelbar die Schuld an Almas frühem Tod trug. Dass ihre ihm unheimlichen Eskapaden Walthers Scheu vor dem weiblichen Geschlecht noch vertieften, mag ebenfalls zutreffen.

Die späteren Lebenswege von Walther und Wolfgang werden gleichfalls sorgfältig rekonstruiert, so Walthers klägliche Versuche, in der Musikwelt Fuß zu fassen, erotische Abenteuer mit Robert Schumann eingeschlossen, und Wolfgangs kurzer Ausflug in die Diplomatie. Eigentlich möchte man die beiden Goethe-Enkel als überspannte, kränkliche Muttersöhnchen und Versager abtun, doch die einfühlsame Verarbeitung in diesem Buch weckt vor allem Mitleid mit Walther und Wolfgang, denen zu Beginn beziehungsweise kurz vor der Pubertät der Großvater als zentrale Bezugsperson entrissen wurde - eine Lücke, die niemand in ihrer Umgebung auch nur annähernd zu füllen wusste.

Wie bereits erwähnt, spielen Originalquellen eine große Rolle in der vorliegenden Biografie; vor allem weiß Dagmar von Gersdorff Auszüge aus Briefen sehr gut in den Text einzubinden. Daher wirkt die Darstellung nicht nur lebendig, sondern auch ausgesprochen authentisch. Einige Abbildungen von Bildern der wichtigen im Buch auftretenden Persönlichkeiten finden sich an passender Stelle.

Diese Biografie sei allen bestens empfohlen, die sich für Goethe und sein Werk, vor allem aber für den Menschen Johann Wolfgang von Goethe interessieren.

(Regina Károlyi; 03/2008)


Dagmar von Gersdorff: "Goethes Enkel. Walther, Wolfgang und Alma"
Insel, 2008. 286 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Dagmar von Gersdorff, Dr. phil., wurde 1938 in Trier geboren. An der Freien Universität Berlin studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte, ihre Promotion schrieb sie über den Einfluss der deutschen Romantik auf Thomas Mann.