Oliver Sacks: "Der einarmige Pianist"
Über Musik und das Gehirn
"Papa schnäuzt sich in
G-DUR"
Oliver Sacks berichtet über die ganz besondere Wirkung von Musik
Der gebürtige Londoner und heute in New York lebende Neurologe und
Schriftsteller Oliver Sacks legt nach langer Pause ein neues Buch mit
Patientengeschichten vor. "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut
verwechselte" hatte ihn Anfang der 1990er-Jahre berühmt gemacht. In
"Der einarmige Pianist" dreht sich alles um die Musik, und was sie mit
unserem Gehirn anstellt.
"Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf den Wochenmarkt und bemerken, dass
die Bananen infolge einer vorübergehenden Störung Ihrer visuellen Verarbeitung
alle orangefarben, der Kopfsalat gelb und die Äpfel lila aussehen."
Vor allem die Farbe der Äpfel wird Ihnen mehr als ungewöhnlich vorkommen, Sie
gar erschrecken und einen Schauer des Missbehagens erzeugen. Warum erwähnt
Oliver Sacks diese optische Disharmonie? Er wählt diesen Vergleich, um dem
Leser das Missempfinden von Menschen mit absolutem Gehör beim Hören eines
vertrauten Musikstücks in einer falschen Tonart zu vermitteln. Absolutes Gehör?
"Menschen mit absolutem Gehör können augenblicklich angeben, was für
einen Ton sie hören. Dazu müssen sie weder überlegen noch einen äußeren
Vergleichsmaßstab heranziehen", so der Autor. Beneidenswert, möchte
man meinen. Doch in unserer mitunter lauten und "misstönenden" Welt
scheint diese Gabe nicht immer von Vorteil zu sein.
Dieser besonderen Anlage ist eines von neunundzwanzig Kapiteln in Oliver Sacks
neuestem Werk "Der einarmige Pianist" gewidmet. Der Mediziner und
Autor, der bereits einige publizistische Treffer landen konnte, nimmt den Leser
auf eine überaus spannende und interessante Reise durch die neurologischen
"Besonderheiten" unseres Gehirns mit. Töne, Klangfarben, melodische
Figuren, Harmonien und Rhythmus - zusammengefasst unter dem einheitlichen
Begriff Musik - bilden dabei den roten Faden.
Musik und ihr großer therapeutischer Wert
Warum übt gerade Musik, egal ob wir nun besonders musikalisch sind oder jeden
Ton schief singen, auf uns eine große Macht aus? Sie hat keine Begrifflichkeit,
und es fehlt ihr an Bildern und Symbolen; dem Stoff, aus dem die Sprache ist.
Trotzdem ist sie wahrscheinlich schon seit den frühesten Anfängen unserer Art
von zentraler Bedeutung. Die "Musikophilie" - so auch der englische
Originaltitel des Buches - liegt in der menschlichen Natur, meint Sacks und ist
so tief mit ihr verwurzelt, "dass wir sie uns wohl als angeboren denken
müssen". Vielleicht ist sie gar gemeinsam mit der Sprache
entstanden.
Doch Oliver Sacks beschäftigt sich in seinem Buch nicht mit der Frage, ob
Sprache und Musik zusammen oder unabhängig voneinander entstanden sind - dies
veranlasste bereits Darwin, Rousseau, Nietzsche oder Spencer und Pinker zu
heftigsten Debatten - sondern der Autor geht dem kognitiven Wunder der Musik
nach. "Es ist wirklich ein sehr seltsam Ding", grübelt er, "wir
alle, in unterschiedlichem Ausmaß, haben Musik in unseren Köpfen."
Warum kann sie uns derart beeinflussen, uns beruhigen, beleben, trösten,
erregen, uns organisieren oder synchronisieren? Vor allem jedoch: Warum hat sie
solch großen therapeutischen Wert bei Patienten mit den verschiedensten
neurologischen Befunden?
Faszinierend, erhellend und ergreifend sind Sacks' Fallbeispiele aus über
vierzig Jahren Praxistätigkeit, die der Autor überaus unterhaltsam darzubieten
versteht. In "Der einarmige Pianist" erzählt der 75-Jährige von
Menschen, die nach einer Hirnverletzung ihre Musikalität verlieren, und von
anderen, die durch eine solche Verletzung erst Musikalität entwickeln. Sacks
ist sich sicher, dass neben dem Defekt auch fast immer ein Gewinn existiert,
zumindest die Chance auf einen Gewinn.
Locker und leicht zu lesende Fallgeschichten
Der Neurologe erzählt von Menschen, die nach einer Gehirntumoroperation ihre
Liebe zur Musik entdecken, von Patienten, bei denen Musik keinerlei Empfindungen
auslöst, oder von einem Chirurgen, der vom Blitz getroffen wird, überlebt,
sechs Wochen später geradezu einen Heißhunger auf Klavierkonzerte bekommt und
fortan nahezu besessen von Klassischer Musik ist und im Endeffekt lernt, selbst
Klavier zu spielen und auch zu komponieren. Oder die seltene angeborene
Erkrankung namens Williams-Syndrom, in der die betroffenen Menschen geistig völlig
zurückgeblieben sind, aber eine außergewöhnliche musikalische Begabung
offenbaren, in der sie mühelose jedes Musikstück bereits nach dem ersten Hören
wiedergeben können.
Sacks schreibt über Hirnwürmer, musikalische Halluzinationen und Savants -
Menschen mit übersteigerten musischen Fähigkeiten, während andere eingeschränkt
oder nicht richtig entwickelt werden. Er berichtet von Anfallsleidenden,
Tourette-Patienten, Blinden, Amusischen sowie Alzheimer- und Demenzkranken, die
durch Musik bzw. eine gezielte Musiktherapie aus ihrer Apathie
"aufgeweckt" wurden: zur Wachheit, wenn sie lethargisch waren, zu
normalen Bewegungen, wenn sie erstarrt waren.
Eine der emotionalsten Geschichten ist die des Musikers und
Musikwissenschaftlers Clive Wearing, eines guten Freundes von Oliver Sacks, der
in Folge einer Hirninfektion nur noch eine Gedächtnisspanne von wenigen
Sekunden aufweist. "Clive kann keine Ereignisse und Erlebnisse behalten
und hat darüber hinaus fast alle Erinnerungen an die Ereignisse und Erlebnisse
verloren, die seiner Enzephalitis vorangingen", eingeschlossen seine
Hochzeit. Aber es gibt sie, die Wunder. Zum einen verliebt sich Clive jedes Mal
wieder in seine Frau, wenn er sie sieht. Und er hat sein musikalisches Vermögen
und Gedächtnis praktisch vollständig bewahrt, singt, spielt Klavier und Orgel
und dirigiert sogar einen Chor. Er führt zwar kein Leben in dem Sinn, wie wir
eines haben, aber durch die Vertrautheit mit der Musik und die Liebe zu seiner
Frau "überschreitet Clive die Amnesie und findet Kontinuität - nicht
als lineares Verschmelzen von Augenblick zu Augenblick - auch nicht als Gerüst
autobiografischer Informationen -, sondern als Ort, wo er und wir alle endlich
sind, wo wir sind, was wir sind", erklärt seine Frau Deborah.
Große Liebe zur Musik
Titelgebend war übrigens das 21. Kapitel über den Wiener Pianisten Paul
Wittgenstein (1887-1961), der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor,
aber zeitlebens ein Phantomgefühl für seine Finger behielt. Er setzte seine
Karriere als einarmiger Klaviervirtuose fort, seit 1938 in den USA. Große
Komponisten wie Paul Hindemith, Benjamin Britten und Maurice Ravel schrieben Stücke
für ihn, die heute häufig von zweihändigen Pianisten gespielt werden.
All diese Geschichten zeigen, dass eigentlich noch viel mehr wissenschaftliche
Aufmerksamkeit erforderlich ist. Denn die neurologische Untersuchung von Musik
kann sich als grundlegend für das Verständnis und die Heilung des Gehirns als
Ganzes erweisen.
Oliver Sacks kombiniert die analytische, reduktionistische mit der
"romantischen" Wissenschaft - einer Wissenschaft, die herausfinden
will, was es heißt, ein Mensch, eine Kreatur auf dieser Welt zu sein: eine
wunderbar ganzheitliche Herangehensweise, die auch ihn selbst als
Untersuchungsobjekt nicht ausschließt.
Dabei gelingt es ihm großartig, Literatur und Wissenschaft unter einen Hut zu
bringen: Nicht nur, dass er Mitglied der Gesellschaft für Neurowissenschaften
und des PEN ist, sondern er würzt seine detaillierten, von großem Fach- und
Allgemeinwissen zeugenden Fallgeschichten mit Sensibilität, Einfühlungsvermögen
sowie seiner ausgezeichneten Beobachtungsgabe. Außerdem schwingt in jedem
Kapitel seine eigene große Liebe zur Musik mit.
All dies macht dieses Buch - trotz gelegentlichen Einstreuens von Fachtermini
und vieler tiefer erläuternder wissenschaftlicher Erklärungen, die jedoch
mittels Fußnoten an den unteren Buchrand verbannt werden - locker und leicht zu
lesen. Ein ausführliches Literaturverzeichnis im Anhang ergänzt den durchweg
positiven Eindruck des Sachbuches, welches durch Hainer Kober flüssig und leger
ins Deutsche übertragen wurde.
Fazit:
Einfühlsam, sensibel und klug schildert der 1933 geborene Neurologe die
geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Gehirn und dem
manchmal krankmachenden, aber vor allem heilenden Einfluss der Musik anhand von
verschiedenen Fallstudien aus seiner langjährigen Praxis.
(Heike Geilen; 06/2008)
Oliver Sacks: "Der einarmige Pianist. Über
Musik und das Gehirn"
(Originaltitel "Musicophilia. Tales of Music and the Brain")
Übersetzt von Hainer Kober.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2008. 398 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2009.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Das innere Auge. Neue Fallgeschichten"
In diesem Buch präsentiert Oliver Sacks weitere packende Fallgeschichten, in
denen er den neurowissenschaftlichen Zusammenhang von visueller Wahrnehmung und
Bewusstsein darstellt. So etwa die Geschichte der gefeierten Pianistin, die die
Fähigkeit Noten zu lesen verlor, gleichwohl aber Konzerte geben konnte. Oder
die der schielenden Neurobiologin, die im Alter von 50 Jahren plötzlich zum
ersten Mal perspektivisch sehen konnte - Oliver Sacks beschreibt, wie ihr Gehirn
diese neue Fähigkeit nutzbar machte. Ganz besondere Aufmerksamkeit zieht dieses
Buch auf sich, weil Sacks hier berichtet, wie er Ende 2005 an einem bösartigen
Tumor im Auge erkrankte. Er beschreibt nicht nur seine Erfahrung, mit Krebs zu
leben, und den Verlust von visuellen Fähigkeiten, er entdeckt auch überraschende
"positive" Phänomene wie milde Illusionen und Halluzinationen sowie
Veränderungen in der Wahrnehmung von Farben und Umrissen. Und es stellt sich
heraus, dass die visuelle Welt weitaus vielfältiger ist, als wir uns gemeinhin
vorstellen. (Rowohlt)
zur Rezension ...
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"Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Der Tag, an dem mein
Bein fortging"
Zwei Bücher in einem Band:
1: Der in New York praktizierende Neuropsychologe Oliver Sacks erzählt zwanzig
ergreifende Geschichten von Menschen, die aus der "Normalität"
gefallen sind. Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der zerebralen
Chemie - und wir geraten in eine andere Welt. Hat sie weniger
Existenzberechtigung, ist sie weniger wirklich als der Boden, auf dem wir mit
beiden Beinen fest zu stehen meinen?
2: Zu Beginn begegnen wir dem Autor auf einer Wanderung in den norwegischen
Bergen. Das Urlaubsidyll verwandelt sich jäh in eine Katastrophe: In einer
gottverlassenen Gegend verletzt sich Sacks ein Bein. Unter unsäglichen
Schmerzen kriecht er ins Tal hinunter: Er muss vor Anbruch der Dunkelheit
gefunden werden, weil er sonst zu erfrieren droht. Zwei
Jäger entdecken ihn.
Der Sehnenabriss verheilt gut, aber Sacks hat das Gefühl für sein Bein
verloren. Es liegt da wie etwas Abgestorbenes, das nicht zu ihm gehört. Oliver
Sacks lässt den Leser auch in diesem Buch in die Abgründe neurologischer Störungen
blicken. (Rowohlt)
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"Migräne"
"Migräne" ist eine umfassende medizinische und medizinhistorische
Darstellung eines der am meisten verbreiteten Leiden der Menschheit. Oliver
Sacks hat sich mit Beharrlichkeit mehr als eintausend Migräne-Patienten
gewidmet und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Auch wenn es den Leidenden
sicher zunächst nur mit Zögern annehmen können: Jede Migräne hat im Leben
des Betroffenen einen Sinn, eine ganz individuelle Bedeutung. Und ist diese erst
erkannt, kann der Schmerz besiegt werden. (Rowohlt)
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Weiterer Buchtipp:
Vilayanur S. Ramachandran: "Die Frau, die Töne sehen konnte. Über den Zusammenhang von Geist und Gehirn"
Gibt es ihn, den "freien" Willen? Was ist das Selbst? Was ist Erinnerung? Was unser Bewusstsein? Wie entstehen
Gefühle?
Wie interagieren wir mit unserer Umwelt? Warum haben wir Sprache
entwickelt, das Vermögen zu Kreativität und moralischem
Handeln, warum gibt es Kunst und Musik - für das Überleben
gänzlich "unnütze" Fähigkeiten?
Gehörte die Beantwortung dieser Fragen lange Zeit eher zur
Domäne der Philosophen oder Psychologen, gibt mittlerweile auch
die Gehirnforschung Hinweise auf die Verbindungen zwischen Geist,
Körper und Gehirn.
In diesem Buch destilliert der international renommierte
Neurowissenschafter Vilayanur S. Ramachandran die wichtigsten
Erkenntnisse seiner bisherigen Forschung zu einem packenden Kompendium
über die Mysterien unseres Seins. Dazu stellt er Patienten mit
außergewöhnlichen Störungen vor: Petra, die Töne
sehen kann, Robert, der allen Menschen unfreiwillig eine bestimmte
Farbe zuordnet, Ali, der glaubt, keinen Körper zu haben, den
Komapatienten Jason, der immer dann aus dem Koma erwacht, wenn er
angerufen wird, und am Telefon ganz normal kommunizieren kann, aber
eben nur dann, oder auch Cindy, für die alle Personen um sie herum
völlig identisch aussehen - wie ihre Tante.
Ausgehend vom jeweiligen Defekt, zieht Ramachandran
Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Gehirns beim gesunden
Menschen. Letztlich geht es ihm um nichts Geringeres als um die Frage,
was den Menschen zum Menschen macht.
Vilayanur S. Ramachandran ist Neurowissenschaftler und Direktor des "Center for Brain and Cognition"
in San Diego und Professor für Psychologie und Neurowissenschaften
an der Universität von Kalifornien. Er ist Mitglied im "Century Club" der "Newsweek", der die hundert wichtigsten Menschen für die Zukunft der USA umfasst. Er lebt in Del Mar, Kalifornien. (Rowohlt)
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