Steven Galloway: "Der Cellist von Sarajevo"
"Das
Sarajevo-Roulette"
Steven Galloway hat die Belagerung Sarajevos während des
Balkankrieges in
seinem beeindruckenden Buch "Der Cellist von Sarajevo" literarisch
aufgegriffen, gestrafft und anhand dreier Einzelschicksale sowie eines
konzentrisch verbindenden Gliedes - des Cellisten von Sarajevo -
rekonstruiert.
Herausgekommen ist ein bestürzendes, aber gleichzeitig
großartiges Buch von
hervorragend literarischer Qualität.
Als 1984 das Maskottchen Vucko - ein starker mutiger Wolf - zu den
Olympischen
Winterspielen einlud, war die Welt in der multi-ethnischen
Balkanmetropole noch
in Ordnung. Wären da nicht die allseits umarmenden Berge,
wähnte man sich im
Sommer bisweilen in einer Mittelmeermetropole. Glanzvolle historische
Gebäude,
überall Straßencafés, Sehen und
Gesehenwerden, Plauschen - mediterranes Flair
allerorts in dieser Stadt mit rund einer halben Million Einwohner.
Doch dann kam eine Zeit unvorstellbaren Grauens: der Balkankrieg.
Sarajevo hatte
es besonders schwer getroffen. Vom 5. April 1992 bis zum 29. Februar
1996 wurde
die Stadt belagert, 10.000 wurden Menschen getötet und weitere
56.000
verwundet. Im Schnitt schlugen 329 Granaten in die Stadt ein. Kaum ein
Gebäude
war nicht beschädigt bzw. wurde völlig
zerstört. "Im September 2007
waren die Führer der bosnisch-serbischen Armee, Radovan
Karadžić und
Ratko Mladić, noch immer auf freiem Fuß, obwohl man ihnen
seit 1996
Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschheit zur Last
legt", schreibt der 1975 in Vancouver geborene Autor Steven
Galloway im
Nachwort seines beeindruckenden Werkes.
Diese Aussage ist mittlerweile nicht mehr aktuell. Im Juli 2008 wurde
der
gesuchte frühere bosnische Serbenführer Radovan
Karadžić nach zwölfjähriger
Flucht gefasst. In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo wurde die
Nachricht von
der Verhaftung mit großem Jubel aufgenommen. Mit Autokorsos
und Hupkonzerten
feierten viele Menschen die Festnahme jenes Mannes, der das Grauen in
ihrer
Stadt mitzuverantworten hatte.
Albinonis Adagio als Hoffnung für die Menschen
Sachlich präzise, in klaren, scheinbar unsentimentalen
Sätzen, verdichtet
Galloway die Mühsal der Bevölkerung während
der Belagerung auf wenige Tage.
Zweiundzwanzig sind es genau, eine Zahl, die für die gleiche
Anzahl Menschen
steht, die während eines Raketenangriffs aus den Bergen ums
Leben kamen:
allesamt Zivilisten, die nach Brot anstanden. Ihnen zu Gedenken spielt
ein Mann
jeden Tag um 16 Uhr auf seinem Cello (die tatsächlich
stattgefundenen Auftritte
Vedran Smailovićs regten Galloway zu dieser Figur an). Gewählt
hat der
Cellist Albinonis Adagio, weil es nicht widerspruchsfrei ist. Denn im
Jahr 1945
fand ein italienischer Musikwissenschaftler dessen Überreste
in der
ausgebrannten Dresdner Musikbibliothek. Die meisten Gelehrten halten
jedoch die
Echtheit für sehr fragwürdig, da sich die Komposition
von anderen Werken
Albinonis erheblich unterscheidet. Doch genau dieser Widerspruch reizt
den
Cellisten. "Dass etwas, das von einer vom Krieg
zerstörten Stadt fast
vernichtet worden wäre, wiedererstehen, etwas Neues und
Wertvolles werden
konnte, gibt ihm Hoffnung. Eine Hoffnung, die jetzt zu dem Wenigen
zählt, was
den belagerten Einwohnern von Sarajevo geblieben ist. Für
viele schwindet die
Hoffnung mit jedem Tag. (...) Er ist sich nicht sicher, ob er
überleben
wird", lässt der Autor seinen auktorialen
Erzähler berichten.
Für sein Überleben ist die Scharfschützin
Strijela (der Pfeil) engagiert. Sie
sorgt dafür, dass sich Menschen trotz der Gefahr für
einen Moment in eine
andere Welt entführen lassen können. Als dann
tatsächlich ein auf den
couragierten Musiker angesetzter Heckenschütze auftaucht, ist
sogar jener von
der Schönheit der Musik fasziniert und zögert den
Moment seines tödlichen
Schusses hinaus. Doch Strijela hat ihn fest im Visier.
Zwei andere Protagonisten lässt Galloway im Wechsel mit ihr
das tägliche
Grauen erleben. "Er weiß nicht, wann das hier
vorüber sein wird",
sinniert der Familienvater Kenan Šimunović beim Anblick der
zerstörten
Nationalbibliothek, "ob dies das Ende ist oder erst der
Anfang. Und er
weiß nicht, wie die Stadt aussehen wird, wenn es endet."
Auf dem
Schwarzmarkt hat er die aufgrund fehlenden Stromes nutzlos gewordene
Waschmaschine gegen einen Apfel und ein Ei eingetauscht.
Regelmäßig geht er zu
den wenigen Zapfstellen, um dort Trinkwasser zu holen, auch wenn dies
einem Tanz
mit dem Tod gleichkommt. Der alten griesgrämigen, undankbaren
Hausgenossin
verwehrt er diesen Botendienst gleichfalls nicht.
Eine grausame "Normalität"
Hoffnung lässt auch den sechzigjährigen
Bäcker Dragan Isović mit
stundenlangen Umwegen an seinen Arbeitsplatz gelangen und das
lebensnotwendige
Brot
besorgen. Die Gefahr, auf offener Straße von lauernden
Heckenschützen
erschossen zu werden, ist allgegenwärtig. Beinahe
täglich sieht er, wie
Passanten unter Gewehrkugeln zusammenbrechen "wie
Marionetten, deren
Puppenspieler ohnmächtig geworden ist. Und nach ein paar
Minuten kehrt wieder
das ein, was man inzwischen als Normalität bezeichnet."
Für die drei Menschen, die stellvertretend für die
Bevölkerung der geplagten
Stadt stehen, ist der Cellist und seine Musik bindendes Glied. Eine
Musik, die "verlangte,
dass es auf der Welt noch Güte geben konnte. Die Töne
waren der Beweis dafür."
Trotz der schrecklichen tagtäglichen Grausamkeiten versinkt
Galloways
eindringlicher Roman nicht in Agonie und Trostlosigkeit. In einer Welt,
"in
der die Menschen einander töten, wo Kugeln und Granaten von
den Bergen
herabfliegen und die Häuser einstürzen",
lässt der Autor den berühmten
Hoffnungsschimmer aufflackern.
Heute beginnt
Sarajevo
wieder zu blühen. Die Balkanmetropole
gilt bereits als
Geheimtipp unter Reisenden. Die Stadt steht vor ihrer großen
Wiedergeburt, sie
atmet euphorische Aufbruchsstimmung. Sarajevo ist wie Phönix
aus der Asche
aufgestiegen und hat längst wieder an die europäische
Szene angedockt.
Und wer erlebt, wie die Menschen heute an den wiederaufgebauten
Prachtbauten aus
der österreichisch-ungarischen Monarchie, über die
Fußgängermeile Ferhadija
Richtung osmanische Altstadt vorbei flanieren, spürt eine
Energie, der man sich
nicht entziehen kann. Möge diese Energie allzeit ihre
positiven Schwingungen
ausstrahlen.
Fazit:
In "Der Cellist von Sarajevo" erzählt der Kanadier Steven
Galloway
vom Sieg der Menschlichkeit im Schrecken des Bürgerkriegs. Ein
gekonnt in Szene
gesetztes, eindrucksvolles, empathisches Werk über die
Hoffnung von Musik
und die
Widersinnigkeit von Krieg und Gewalt, in einer großartigen
Übersetzung von
Georg Schmidt.
"Ihr interessiert euch vielleicht nicht für den
Krieg! Aber der Krieg
interessiert sich für euch!" (Leo Trotzki)
(Heike Geilen; 10/2008)
Steven
Galloway: "Der Cellist von
Sarajevo"
(Originaltitel "Cellist of Sarajevo")
Aus dem kanadischen Englisch von Georg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, 2008. 240 Seiten.
Buch
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