Aslı Erdoğan: "Die Stadt mit der roten Pelerine"
Aslı
Erdoğan lebt als freie Schriftstellerin in Istanbul, doch
ursprünglich studierte sie Informatik und Physik. In diesem
Bereich arbeitete sie auch eine Zeit lang, ab 1994 zwei Jahre lang in
Rio de Janeiro. So bekommt man als Leser eine Vorstellung davon, warum
ihr Roman "Die Stadt mit der roten Pelerine" mit türkischer
Protagonistin ausgerechnet in Rio spielt. Zugleich verrät
dieser biografische Hintergrund einiges über die
persönlichen Bezüge zur Protagonistin und Handlung
des Romans. Erschienen ist das zweihundertseitige Buch im Rahmen der
"Türkischen Bibliothek"-Reihe im Februar 2008 beim
Unionsverlag.
Özgur ist eigentlich zum Studieren nach Rio de Janeiro
gekommen. Da kannte sie die Stadt noch nicht, da hatte sie
Özgur noch nicht ihren Bann geschlagen. Zu Beginn des Romans
sieht das schon anders aus. Özgur hat ihr Studium abgebrochen
und vegetiert ohne Geld fast nur noch lethargisch vor sich hin.
Özgurs Mutter bittet sie bei Telefonaten innig, wieder nach
Hause zu kommen, zurück in die Zivilisation, doch
Özgur lehnt ab. Sie will die Stadt nicht verlassen, ohne mit
ihr abgerechnet zu haben. Sie will einen Roman schreiben, der in Rio
spielt, in dem Rio, wie sie es kennen gelernt hat. Die Protagonistin
ihres Romans ist eine junge Türkin inmitten von Rio, und nach
und nach verschmelzen Fiktion und Realität. Immer tiefer
gerät Özgur in den Strudel der Stadt, statt sich aus
diesem befreien zu können.
Rio de Janeiro, die pulsierende Stadt voller Lebenslust, Leidenschaft,
strahlender Gesichter, tanzender Körper - das ist das Rio, wie
man es aus den Medien und der daraus resultierenden eigenen Vorstellung
kennt. Dieses Rio hat jedoch wenig mit dem zu tun, was der Leser in
Erdoğans Roman vorfindet. Die Atmosphäre ist nicht allein vom
Klima aufgeheizt, Kriminalität und Gefahr liegen in der Luft.
Ob es die mit Maschinengewehren
ausgefochtenen Kämpfe in den Favelas sind oder die Bedrohung,
am Kiosk nebenan geschlagen oder vielleicht sogar aufgeschlitzt zu
werden: Angst begleitet Özgurs
Leben.
Neben der Angst ist es auch der Hunger. Das Bild hat sich gewandelt,
seit Özgur das Geld ausgegangen ist und sie ihre Zeit nicht
mehr in teuren Cafés und auf den Festivals verbringen kann.
Ihre Zeit vergeht nun langsamer, sie ist einsam. Damit ist sie viel
näher dran an Rios Bewohnern als jemals zuvor, doch damit
wächst auch die Gefahr für ihre Gesundheit und ihr
Leben.
Doch trotz allem, trotzdem Özgur sich des Strudels durchaus
bewusst ist, will sie die Stadt nicht aufgeben. Sie will ein Teil von
ihr sein und will sie doch überwinden. Sie möchte
einen objektiven Blick auf die Stadt werfen und ist über
diesen Punkt doch schon lange hinaus.
Trotz des dichten Geflechts innerer Ereignisse und die auf das noch
Kommende, auf das Unausweichliche ausgerichteten Geschehnisse
"passiert" in dem Roman eigentlich nicht sonderlich viel. Dies
fällt dem Leser jedoch vermutlich erst nach der
Lektüre so richtig auf, denn der Roman versteht es, so wie das
beschriebene Rio, in den Bann zu schlagen und zu begeistern. Auch als
Leser gerät man in einen Strudel, der erst endet, wenn man
auch die Lektüre von Erdoğans Roman beendet hat.
Zu einem großen Teil verdankt der Roman diesen Sog der
Ausdrucksweise der Autorin. Sie setzt Sprache gekonnt ein,
variationsreich, und glücklicherweise sind diese Details in
der Übersetzung von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch
wohl weitgehend erhalten geblieben.
Das Bemerkenswerteste an Erdoğans Stil sind jedoch die zahlreichen
Vergleiche, die sie einsetzt. Sie sind eingängig, plastisch
und sehr ansprechend, auch wenn ihr Einsatz zumindest subjektiv im
Verlauf des Buches nachlässt.
Trotz des wirklich gelungenen Romans, seiner Dichte und der Rezension
im Handgepäck - das Buch schließt mit einer
Buchbesprechung von Karin Schweißgut, die in Turkologie
promovierte und ein sehr ausführliches und lesenswertes
Nachwort zum Roman verfasst hat -, weist "Die Stadt mit der roten
Pelerine" auch einige Tücken auf. Nicht alles wirkt
gleichermaßen authentisch, und vor allem die Darstellungen
von Özgurs Hunger und ihrer Armut sind nicht
durchgängig glaubhaft - doch lesen und urteilen Sie selbst!
(Tanja Thome; 03/2008)
Aslı
Erdoğan: "Die Stadt mit der roten Pelerine"
(Originaltitel "Kirmizi Pelerinli Kent")
Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch.
Nachwort von Karin Schweißgut.
Unionsverlag
Türkische
Bibliothek, 2008. 200 Seiten.
Buch
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Aslı Erdoğan gewann im Jahr 1990 den vielbeachteten "Yunus-Nadi-Preis". Vier Jahre später gab sie ihre Karriere als Physikerin auf und konzentrierte sich auf das Schreiben. 1996 erschien ihr erster Roman "Mucizevi Mandarin" ("Der wundervolle Mandarin"), und seither lebt die Autorin als freie Schriftstellerin in Istanbul. Aslı Erdoğan ist Mitglied des PEN und der türkischen Schriftstellervereinigung sowie Gründungsmitglied des Kunst- und Literaturforums von Diyarbakir, wo sie regelmäßig Seminare und Vorlesungen abhält. In ihren Werken erkundet sie stets das Fremde, das Andere vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und der globalen Entwicklungen. In ihren Romanen versucht sie, Erfahrungen wie Leid, Einsamkeit und Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Leseprobe:
Tag der Feuerwerke
Plötzlich waren wieder Schüsse zu hören.
Özgür fuhr vor Schreck zusammen, das Glas in ihrer
linken Hand fiel zu Boden. Ihr ganzer Körper zuckte, als
würde man ihm Stromschläge verpassen. Aus jeder Pore
drang Schweiß, dennoch fühlte sie sich hart an wie
Eis. In ihren Augen standen
Tränen, die brannten wie
Säure, aber sie konnte nicht weinen "Aufhören! Genug!
Ich halts nicht mehr aus! Mein Gott, mach dieser Folter endlich ein
Ende! Siehst du denn nicht, dass ich nicht mehr kann?"
Der Nervenzusammenbruch dauerte nur ein paar Minuten, dann hatte sie
sich wieder gefasst. Mit der Gewissenhaftigkeit eines Offiziers
lauschte sie dem Monolog einer halbautomatischen Schnellfeuerwaffe. Als
ihr klar geworden war, dass die Schüsse nicht aus den auf der
Anhöhe gelegenen Favelas, sondern aus dem benachbarten Tal
kamen, ging sie wieder ins Haus zurück. Es tröstete
sie zu sehen, dass ihr einziges Glas nicht zerbrochen und kein einziger
Tropfen Tee auf ihr Heft gefallen war. Sie lächelte sogar, als
sie merkte, dass die verschwitzten Finger ihrer rechten Hand den Stift
während des ganzen Anfalls krampfhaft festgehalten hatten.
Die beiden riesigen Favelas, die sich von den Flanken der
Anhöhe von Santa Teresa bis zum Dschungel erstrecken,
bekämpfen sich nun schon seit acht Tagen. Die etwa
sechshundert Favelas, die das sonst so überwältigend
schöne Gesicht Rios wie Pockennarben entstellen, werden seit
der Zeit der Militärjunta von einer der mächtigsten
Organisationen Lateinamerikas kontrolliert, dem Comando Vermelho.
In den Favelas verging kein Tag ohne Kämpfe: Entweder gerieten
konkurrierende Banden beim Verteilen von
Kokain
aneinander, oder die Polizei unternahm Razzien mit fünfzig
Mann starken, bis an die Zähne bewaffneten Einheiten, wenn
ihnen das Schmiergeld zu gering war.
Aber nun waren in Santa Teresa die schrecklichsten Kämpfe
ausgebrochen, die Özgür während ihrer zwei
Jahre in Rio erlebt hatte. Seit letztem Samstag setzte schon morgens
mit den ersten Sonnenstrahlen ein Getöse ein, entfacht von
Infanteriegewehren, Uzi-Maschinenpistolen und Handgranaten, das den
ganzen Tag andauerte. Özgür, die noch vor zwei
Nächten in den jetzt dunklen und totenstillen
Straßen von Santa Teresa herumspaziert war, sah, wie ein
halbes Dutzend Busse, die vollgestopft waren mit Soldaten und aus deren
Fenstern lange Gewehrläufe ragten, lautlos und ohne Licht den
Berg erklommen. Mit dem Eingreifen des Militärs waren die
Kämpfe keineswegs beendet, im Gegenteil, sie gerieten
völlig außer Kontrolle.
Noch vorgestern hatte sie diese Schüsse bloß als
eine weitere Lärmquelle in diesem unablässig
dröhnenden Rio angesehen, als eine weitere Störung,
die sie daran hinderte, sich auf ihren Roman zu konzentrieren, oder sie
glaubte zunächst, sie als solche zu sehen. Bis es mit ihren
Nervenzusammenbrüchen losging.
Heute war irgendein Sonntag. Ein ganz normaler Sonntag. Wieder so ein
trister, trostloser Tag, der, wie schon die Tage zuvor, ohne irgendeine
Hoffnung, Erwartung oder Bedeutung verstrich. Der Tag der Feuerwerke.
Obwohl es erst Anfang Dezember war, hatte sich eine entsetzliche Hitze
über der Stadt ausgebreitet, die anschwoll und in Wellen
über sie hereinbrach. Die Temperatur sollte nun wochen- und
monatelang nicht mehr unter vierzig Grad sinken. Die überall
in den Straßen der Stadt angebrachten Thermometer sollten
jetzt wie unter der Achsel eines Gelbfieberkranken Werte um die
zweiundvierzig Grad anzeigen. Wie im Wahn stürzt sich die
Hitze auf die Menschen, drückt ihnen die Kehle zu und raubt
ihnen den Atem. Die Stadt verwandelt sich dann in einen riesigen Ofen,
in dem die Menschen bei lebendigem Leib langsam schmoren. Die Sonne
reißt sich die Maske der freigiebigen Königin, die
sie das ganze Jahr getragen hat, herunter und gebärdet sich
wie eine mordlüsterne Tyrannin. Die Luft saugt so viel
Feuchtigkeit wie möglich auf und kondensiert sie zu Wasser.
Die legendäre Feuchtigkeit der Tropen.
Özgürs Unterkunft bestand aus einem Wohnraum, so
schmal und lang wie ein Trog, einer Küche, die sie "Gruft"
nannte, und einem Bad voller Blutegel, die sie nicht umbringen konnte,
weil sie sich so vor ihnen ekelte. Die Wohnung war eine von sechs
Appartements einer schneeweißen, mit Säulen und
ähnlichem Schnickschnack verzierten Villa, die den
hochtrabenden Namen "Villa Branca" trug. Der Abhang ins Tal von Santa
Teresa war derart steil, dass sich die hinteren Fenster ebenerdig zu
einem Dschungel aus wilden Gräsern und dornigen
Sträuchern hin öffneten, während sich der
Balkon auf der Vorderseite mindestens drei Meter über dem
Boden befand. Durch die Fenster, die wegen der Hitze Tag und Nacht
geöffnet waren, drangen Termiten, Eidechsen, Heuschrecken,
handtellergroße Kakerlaken und manchmal sogar herrenlose, vom
Hunger geschwächte Katzen ein. Auch Özgür
war einmal hinausgeklettert und hatte versucht, sich durch diesen
Dschungel zu kämpfen, aber sie hatte noch keine zwei Schritte
getan, da waren ihre Hände und ihr Gesicht schon
völlig zerkratzt. Obwohl sie wusste, dass kein Tier, das
größer war als eine Katze, das Dornendickicht
durchdringen konnte, erschreckten sie die nächtlichen
Geräusche aus dem Garten zu Tode. Sie hatte kein Geld
für einen Ventilator. Aber der ausgesprochen geizige und
halsabschneiderische Hausbesitzer Professor Botelho verweigerte seinen
Mietern, obwohl er widerwärtig reich war, eine Klimaanlage,
die hier ebenso lebenswichtig ist wie in Stockholm die Heizung. Er war
der maßgebliche Berater des rechtsgerichteten
Bürgermeisters, spielte sich wegen seines akademischen Titels
und seiner rein europäischen Abstammung auf und war sehr
darauf bedacht, vornehm und bedeutend zu erscheinen, wie es seinem
eigenen und dem Rang seiner Vorfahren angemessen war. Obendrein war er
auch noch Sauberkeitsfanatiker; er vergötterte Regeln, Ordnung
und Formalien. Den der Straße zugewandten Teil des Gartens
schmückte er mit griechischen Götterstatuen aus
feinstem Marmor, mit Lampen, die aufdringlich an Paris
erinnerten, und mit eleganten Treppen, die zwischen Bananenstauden und
Mangobäumen zu schweben schienen. Doch die Art und Weise, wie
er die Appartements eingerichtet hatte, verriet, dass seine
goldglänzende Persönlichkeit nur Fassade war. In
Özgürs Wohnzimmer hatte er ein riesiges,
hässliches, steinhartes Bett, Aluminiumregale und ein
kunstledernes Klappsofa gestellt, das aussah, als hätte man es
aus dem Rathaus entwendet; zwischen all dem Gerümpel stand ein
schwerer, wuchtiger Mahagonitisch mit acht Stühlen, die viel
zu viel Platz wegnahmen. Auf dem Balkon hatte er außerdem die
für Rios Häuser obligatorische Hängematte
angebracht; an der Tür hingen auf Schnüre
gefädelte Muscheln, die beim leisesten Windhauch
ohrenbetäubend rasselten, denn nach einer brasilianischen
Glaubensvorstellung, die ursprünglich aus Afrika
stammt,
bringen Muscheln Glück. An einer der grauen Wände,
die unangenehme Assoziationen an die Korridore von
Krankenhäusern oder Gerichtsgebäuden wachriefen, hing
ein Schwarz-Weiß-Poster, das Prof. Botelho im New Yorker
Metropolitan Museum gekauft und das er aufwändig hatte rahmen
lassen: die Nahaufnahme eines Paares, das sich küsst und
dessen geöffnete Lippen leicht ölig schimmern.
Früher einmal hatte Özgür die steife,
verhaltene, fast förmliche Sinnlichkeit der Fotografie
erregend gefunden. Sie sehnte sich danach, ihre Lippen an die Lippen
dieses krawattetragenden Mannes auf dem Bild zu pressen. Vor allem
nachts, wenn sie ihre Einsamkeit in dieser so bedrückenden,
erstickenden Atmosphäre des Hauses als ein von ihr
unabhängiges, schwer zu zähmendes,
überschäumendes, unkontrollierbares, fast
zerberstendes Wesen wahrnahm. Nicht um ihn zu küssen,
sondern
wie ein hungriger kleiner Vogel, der sich nach dem Schnabel seiner
Mutter reckt. (...)