Tim Krohn: "Warum die Erde rund ist"

111 Schöpfungsmythen, gesammelt und neu erzählt von Tim Krohn, illustriert von Kat Menschik


Auf der Suche nach den Wurzeln

Am Anfang war ein vierjähriges Mädchen, das Elisa hieß, in einem kleinen Bergtal spielte und sich darüber wunderte, dass es so klein und der Berg so groß war. Je dunkler es wurde, desto größer erschien der Berg. Und da fragte sich Elisa, wer denn den riesengroßen Berg, sie selbst und die Welt erschaffen hat. Die unzähligen Sterne am Himmel schienen bloß darauf zu warten, dass jemand diese Frage stellt - denn seit jeher erzählen sie an vielen Orten der Erde die Geschichten über die Erfindung der Welt. Da blinzelten sie dem Mädchen entschlossen und heftig zu und luden es zu einem Abenteuer ein. Zu einer Reise, die 111 Nächte dauern wird und die jede Nacht Elisa offenbart, wer den hohen Berg, die Menschen und alles Andere gemacht hat und den Anfang aller Dinge festlegte.

Tim Krohn hat den Geständnissen der Sterne neben dem kleinen Mädchen zugehört und das Gehörte zu Papier gebracht. Kat Menschik, die in die himmlische Leinwand blickte, legte der Erzählung traumschöne Illustrationen bei. Die schwarz-weißen Zeichnungen bezeugen die Entstehung der Erde auf eine bizarre Art und Weise und lassen jede Geschichte vor den Augen passieren. Es sind fragile visuelle Momentaufnahmen des Ursprungs, die sich der Zeichnerin zwischen den Sternenkonstellationen offenbarten.

Jede Nacht wird nun die Erde neu erschaffen, einmal aus einem Ei, dann wieder aus einem Kern, einmal aus purer Langeweile des Erfinders. Und jedes Mal wird der Leser aus der Gegenwart Tausende von Jahren zurückversetzt, von einem kleinen Schweizer Bergtal zu einem Punkt, wo es weder den Berg noch das Tal gibt, an den Entstehungsort und Entstehungszeitpunkt der Existenz. Womöglich drängt sich bloß diese weite und vergessene Vergangenheit in die Gegenwart und sitzt mit jeder Nacht ein Stück tiefer in der realen Zeitspanne. Vielleicht ist es auch ein und dasselbe, würden die Sterne sagen. Tim Krohn gelingt dabei ein Wunder - die Zeit gefriert, sie bleibt stehen, die Gegenwart verschmilzt mit der Vergangenheit und lässt die Welt jedesmal hier und jetzt entstehen - vor den Augen der vierjährigen Elisa, die somit zu einem Teil des Geschehenen wird.

Tim Krohn, der den Schöpfungsszenarien verschiedener Erdteile und Völker eine neue Form und sprachliche Gestalt gegeben und sie alle miteinander verbunden hat, bewirkt dabei ein Paradox - die Grenze zwischen dem Realen und Imaginären, zwischen jetzt und dem Anfang verblasst. Einzelne Mythen und Sagen treten hier in einen phantasmagorischen, bizarren Dialog. Sie ergänzen sich gegenseitig, stellen einander in Frage, bestreiten gegenseitige Wahrhaftigkeit, bis die Unterschiede in den Hintergrund gleiten und nur das Gemeinsame bleibt, das die Antwort auf alles ist. Ein Mythos, der in Jedem und überall wohnt, in allen Ecken der Erde und in jedem einzelnen Menschen ...
Was war am Anfang? Es wird Zeit, die Sterne sprechen zu lassen.

(Anna Wilhelm; 12/2008)


Tim Krohn: "Warum die Erde rund ist"
Eichborn Berlin, 2008. 188 Seiten.
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Tim Krohn, geboren 1965 in Nordrhein-Westfalen, wuchs in Glarus in den Schweizer Alpen auf und lebt als freischaffender Theater- und Romanautor in Zürich.

Weitere Bücher von Tim Krohn (Auswahl):

"Vrenelis Gärtli"

Das Vreneli ist nicht wie andere Kinder. Schon über seine Eltern kursieren im Tal die seltsamsten Gerüchte, und als die Mutter früh stirbt, heißt es, der Vater habe mit bösen Mächten paktiert. Das Vreneli soll fort von ihm und auf die Schule, doch lernt es lieber das zwielichtige Handwerk des Zauberns und streicht in Gestalt eines roten Füchsleins über die zerklüfteten Berge und Gletscher. Nachdem es die Tochter eines reichen Fabrikanten aus der Gefangenschaft eines Hexers gerettet hat, verfolgt der es mit Wut und Ausdauer. Bald darauf trifft das Vreneli den Waisenknaben Melk, einen jungen Sennen, ein Quatemberkind wie sie - und spürt ein bis dahin nicht gekanntes Sehnen. Doch bringt der Fluch des Hexers auch den Melk in Gefahr ...
Wie in Ovids "Metamorphosen" die klassischen Mythen, so tauchen in Tim Krohns Roman die schweizerischen Sagenstoffe auf und gewinnen in der poetischen Verwandlung neue Gestalt. In einer faszinierenden schwiizerdüütsch-hochdeutschen Kunstsprache Glarner Prägung erzählt er ohne Moralisieren und jenseits aller Folklore seine wilden, anrührenden und "meineidig schönen" Geschichten. (Eichborn Berlin)
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"Heimweh"
In "Heimweh" erzählt Tim Krohn drei Geschichten: Eine davon ist die des neunjährigen Jens, der seinen Vater nicht kennt und mit seiner schwedischen Mutter auf dem Weg nach Frankreich ist. Die beiden wollen ans Meer, das für Jens der Ort seiner Träume ist, doch sie kommen nur bis zum nebelverhangenen Genfer See. Später kehrt Jens' Mutter nach Schweden zurück, wo sie überraschend stirbt. Nun nimmt ihn sein Vater bei sich auf, abermals weit entfernt vom Meer. Jens ergreift die Flucht - und kommt am Ende in ein Heim, wo sich im Speisesaals das fröhliche Stimmengewirr der anderen Kinder zu einem Rauschen verdichtet, einem Rauschen, das dem Geräusch der Brandung gleicht.
"Heimweh": Drei Geschichten, die davon erzählen, dass man sich sein Glück im Leben selbst erobern muss, auch und gerade wenn die Zukunft trostlos und verloren scheint. Tim Krohn hat ein Buch voller Sehnsucht und voller Hoffnung geschrieben, das auf betörenden Weise vom Schmerz und vom Zauber der Jugend erzählt. (Marixverlag)
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