Hans Magnus Enzensberger: "Hammerstein oder Der Eigensinn"
Eine
deutsche Geschichte
(Hörspielrezension)
Das
Schweigen der Hammersteins
Im Jänner 2008 legte Hans Magnus Enzensberger sein (bislang)
wohl
umstrittenstes Buch vor: "Hammerstein oder der Eigensinn". Es ist die
Lebensgeschichte eines klugen, weder autoritäts-, noch
obrigkeitsversessenen,
aber auch eigensinnigen Charakters und dessen Familie: des aus altem
westfälischem
Adel stammenden, heutzutage kaum mehr bekannten Kurt von
Hammerstein-Equord,
General der Reichswehr (1878-1943).
Als Adolf Hitler 1933 bei einer Zusammenkunft in Hammersteins Haus
seine
Weltkriegspläne enthüllte, entschied sich der Chef
der Heeresleitung gegen
einen Militärputsch und quittierte seinen Dienst. Hammersteins
Töchter und Söhne
wählten jedoch den aktiven Widerstand, die Mädchen
hauptsächlich im
kommunistischen Untergrund. Helga zum Beispiel war mit Leo Roth liiert,
einem
Spitzenagenten des illegalen M-Apparats der KPD und spionierte auch
selbst. Die
Motorrad fahrende Maria Therese heiratete einen Halbjuden und
führte ein
abenteuerliches Exilleben, unter anderem in einem Kibbuz. Marie Luise,
die Älteste,
ging nach dem Krieg sogar in die DDR, wurde SED-Mitglied und
Anwältin, gerüchteweise
sogar KGB-Agentin.
Ludwig und Kunrat wiederum gehörten zu den direkt Involvierten
des
Hitlerattentats am 20. Juli 1944.
Fiktives Totengespräch
Enzensberger - fasziniert von diesem klugen aber auch streitbaren Kopf
-
konstruiert ihn als tragendes, den Stoff zusammenhaltendes
Grundgerüst in seine
Geschichte und legt die Handlung um ihn herum an. "Es gibt
keine gründliche
Publikation über diesen Mann, der immerhin der erste Mann in
der Reichswehr
war, vor dem Machtantritt Hitlers. [Eine Figur], die eine ganze
deutsche
Geschichte in ihrer Breite, in ihrer Vielfältigkeit,
in ihren
Nuancen, in ihren
Widersprüchen" darstellt, so Enzensberger in einem
Interview. Der
Autor hat überlegt, wie er sich diesem Mann literarisch
nähern könnte. Roman
und wissenschaftliche Abhandlung sollten es nicht sein. Der
historischen
Wahrheit wollte er jedoch unbedingt nachleuchten.
Die noch lebenden Familienmitglieder bezweifelten, dass sich diese
Geschichte überhaupt
von einem Außenstehenden darstellen lässt, nicht
zuletzt, weil es von
Versionen und Widersprüchen wimmelt. Hinzu kommt der
"Erlebnisabgrund" des Erzählenden gegenüber den
Leuten, die damals
gelebt haben.
Doch der Autor hat den schwierigen Spagat großartig
geschafft. Er bedient sich
einer alten literarischen Technik - dem fiktiven
Totengespräch, der posthumen
Erzählung. Enzensberger zitiert aus Akten und
widersprüchlichen
Zeugenberichten, er unterhält sich mit den Toten, integriert
Meinungen von
Zeitgenossen und greift erklärend ein, wo es geboten scheint:
eine präzis-kühle,
aber spannende Collage aus vielfältigen Auffassungen und
Tatsachen.
Äußerst wertvolle
Hörspielproduktion
Dies wiederum scheint geradezu prädestiniert für die
gewählte Hörspielfassung
zu sein, die mit achtzehn hervorragenden Sprechern besetzt wurde -
unter ihnen
solch großartige Schauspieler wie Gisela May, Dietmar Mues
oder aber
Hans-Michael Rehberg, der den General persönlich intoniert.
Für die Rolle des
Autors, des Interviewenden, zeichnet sich Friedhelm Ptok mit seiner
markanten
und charismatischen Stimme besonders aus. Er fungiert hierbei als
überaus
beeindruckender und souveräner
Gesprächsführer, der die Fäden
während der
ganzen Zeit unfehlbar und eigenständig in der Hand
behält und seine
stimmlichen Fertigkeiten in den Dienst des Textes stellt, dessen
Substanz er
erkenntnisklar zum Vorschein bringt.
Und so ist eine äußerst wertvolle
Hörspielproduktion entstanden, die eine
streitbare Familie beleuchtet. Der Zweifel jedoch bleibt bestehen, ob
die
Nachgeborenen über genügend Vorstellungskraft
verfügen, um dem, was vor
vielen Jahrzehnten geschah, gerecht zu werden. "Wie dem auch
sei,
jedenfalls herrscht bei den Hammersteins ein Schweigen besonderer Art.
Wer in
Zeiten der Diktatur lernen musste, dass es gefährlich sein
kann, alles zu äußern,
was einem durch den Kopf geht, dem mag ein solches Training zur zweiten
Natur
werden und er wird nicht leicht davon ablassen", intoniert
Friedhelm
Ptok am Ende der Produktion. "Es bleibt ein ungesagter Rest,
den keine
Biografie auflösen kann. Und vielleicht ist es dieser Rest,
auf den es ankommt."
Besonders angenehm ist hervorzuheben, dass Hans Magnus Enzensberger
nicht
urteilt, sondern eine unverbindliche Distanz zu seinen Figuren
hält.
Als harmonisches Bindeglied fungieren sparsame Musikeinspielungen. Ein
Begleitheft mit den wichtigsten Daten Kurt und Maria von Hammersteins
sowie
deren sieben Kindern und ein Stammbaum der Familie ergänzen
das eindrucksvolle
Hörspiel.
Fazit:
Enzensberger hat ein ungemein spannendes Buch vorgelegt, welches anhand
von
Biografien der Familie von Hammerstein ein Zeitalter der Extreme in
komprimierter, verdichteter Form analysiert und so ein facettenreiches
Bild über
eine nicht einfach zu beurteilende Persönlichkeit und deren
Familie entstehen lässt.
Die Umsetzung als Hörspiel ist großartig gelungen.
(Heike Geilen; 09/2008)
Hans
Magnus Enzensberger: "Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine
deutsche
Geschichte"
Der Hörverlag, 2008. 3 CDs; Spieldauer ca. 224 Minuten.
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Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2008. 375 Seiten.
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