Anne Enright: "Das Familientreffen"
Dieser Roman der irischen Autorin
Anne Enright gewann den "Man Booker-Preis" 2007. Nicht zuletzt
deswegen und wegen der Begründung der Jury, in der es beispielsweise heißt: "Ein
starkes, unbequemes und zuweilen sogar wütendes Buch ... Ein schonungsloser
Blick auf eine trauernde Familie in harter, beeindruckender Sprache ... Ein sehr
lesbarer Roman", machte der Roman auch deutschsprachige Leser
neugierig. Im September 2008 erschien das Buch dann auch unter dem Titel "Das
Familientreffen" bei der DVA als gebundene Ausgabe in deutscher Sprache,
und die neugierigen Lesefreunde sind aufgefordert, ihre Nase in die 343-seitige
Geschichte zu stecken und die Ich-Erzählerin Veronica zu begleiten.
Veronica ist außer sich vor Zorn, Trauer, Verwirrung, schlicht angefüllt mit
allen denkbaren Emotionen, die man sich nur vorstellen kann. Ihr Lieblingsbruder
Liam hat sich das Leben genommen, einfach so, ohne
Abschied zu nehmen oder Gründe
zu nennen. Veronica trifft der Verlust hart, aber auch die Tatsache an sich,
dass sich überhaupt jemand aus ihrer Familie das Leben genommen hat. Liam
scheint für eine solche Aktion der Naheliegendste gewesen zu sein, und doch
trifft Veronica diese Nachricht bis ins Mark. Obwohl ihre Mutter noch lebt und
Veronica eines von neun überlebenden Kindern ist (zieht man die verstorbenen
Geschwister und die zahlreichen Fehlgeburten der Mutter ab), bürdet sie sich
doch die meiste Arbeit auf: Sie kümmert sich um die Beerdigung, organisiert
sie, delegiert Aufgaben und versucht, die Familie zu diesem Anlass zusammen zu
bringen. Parallel dazu stellt sie sich die Frage nach dem Warum. Doch Veronica
arbeitet damit nicht nur Liams Selbstmord auf, sondern sein gesamtes Leben, das
Leben ihrer Mutter und ihrer Geschwister, sogar das Leben ihrer Großeltern -
all das, um letztlich auch den Schlüssel zu ihrem eigenen Leben und ihrem
eigenen Ich zu finden. Die Definition, verheiratet und Mutter zweier Kinder zu
sein, ist Veronica plötzlich nicht mehr genug, vielmehr erscheint ihr diese
Definition absurd. Veronica macht sich auf die Suche nach mehr, nach eigentlich
allem ...
Ein simpel erscheinendes und dennoch sehr aufrührendes und spannendes Thema,
das den Mittelpunkt von Enrights Roman darstellt. Rasch wird man von der
Geschichte gefangen genommen, die keineswegs poetisch, plätschernd oder
sonstwie gemächlich erzählt wird, sondern mit dem ganzen Gros an Emotionen und
Fragmenten, die Veronica durch den Kopf gehen. Der Leser ist auf diese Art und
Weise erschreckend nah dran an ihrer Geschichte beziehungsweise der Suche nach
derselben. Man bekommt die ganze Wucht von Wut und Trauer ins Gesicht
geschleudert, die Verzweiflung, die Ohnmacht - dann jedoch auch die Nerven
beruhigende Erinnerungen, die allerdings selten ein ebenso beruhigendes Ende
aufzuweisen haben. Die Geschichte einer Familie und die eines Trauerfalls auf
mehreren hundert Seiten abwechslungsreich, authentisch wirkend und niemals rein
klischeebeladen auszubreiten, erfordert eine Kunst, die Anne Enright mit
Sicherheit beherrscht - nicht umsonst gewann sie den "Booker-Preis".
"Das Familientreffen" ist schon vom Thema her keine seichte
Unterhaltungskost, für den zarter besaiteten Leser wird die Lektüre
stellenweise und zunehmend jedoch auch anstrengend. Die Sprache beziehungsweise
die zum Ausdruck gebrachten Gefühle sind fast durchweg derb, und immer mehr
Raum nimmt der Sex in Enrights Roman ein. Ist es anfangs die eher absurde Idee
einer zarten Romanze der eigenen Großmutter lang vor Veronicas Geburt, so
finden sich im Verlauf immer mehr sexuelle Themen ein. Die Abscheu Veronicas vor
dem Sex mit dem eigenen Mann, diverse Liebhaber ihrer Jugend, erdachter Sex ...,
und irgendwann nervt es einen dann schon. Knapp zweihundert Seiten vergehen, bis
erstmals die Sprache auf das ominöse Ereignis kommt, an das Veronica sich zu
erinnern glaubt, und das sie verantwortlich für den Selbstmord des Bruders
macht, dabei nicht wissend, ob dies wirklich geschah oder ebenfalls ihrer
Fantasie entspringt. Immer mehr entfernt die Geschichte sich vom Aufhänger
selbst und lässt die Erzählerin von einem sexuellen Abenteuer zum nächsten
stolpern, von einer Derbheit in die nächste.
Dass Enright hohes literarisches Talent aufweist, ist keine Frage und auch in
"Das Familientreffen" eindrucksvoll belegt und für jedermann
nachzulesen, und doch bleiben nach der Lektüre ungeachtet aller Lobeshymnen ein
schaler Beigeschmack und die leise Frage, ob die Autorin sich an mancher Stelle
nicht auch ein wenig verzettelt und zu dick aufgetragen hat.
(Tanja Thome; 11/2008)
Anne Enright: "Das Familientreffen"
(Originaltitel "The Gathering")
Übersetzt von Hans-Christian Oeser.
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2008. 343 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2009.
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Anne Enright wurde 1962 in Dublin geboren und lebt auch heute noch
in Irland.
Mit ihrer Kurzgeschichtensammlung "Die
tragbare Jungfrau" gewann sie den "Rooney Prize", ihr
zweiter Roman "What are you like?" war für den "Whitbread Novel
Award" nominiert und gewann den "Encore Award".
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Anatomie einer Affäre"
Eine verhängnisvolle Affäre - leidenschaftlich und schockierend offen.
Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, als Gina den Familienvater Seán
Vallely bei einem Gartenfest kennenlernt. Doch dann treffen sie sich zufällig
wieder, trinken zu viel, landen im Bett - und verfallen einander. So beginnt
eine verhängnisvolle Affäre, die jahrelang vor den Ehepartnern geheim gehalten
wird. Anfangs eine Beziehung voller Leidenschaft und Glück, hält langsam das
Schweigen Einzug, Gewissensbisse, Vorwürfe, Schuld - ist es Liebe? Und darf
man für diese Liebe das Seelenheil seines Kindes opfern?
Anne Enright ist für die schonungslose Unerbittlichkeit bekannt, mit der sie
Beziehungslügen seziert - da reicht eine Geste, ein Blick, und schon ist klar:
Die Liebenden steuern in den Abgrund der Alltagsnormalität. Mit "Anatomie
einer Affäre" ist der Irin ein würdiger Nachfolger ihres preisgekrönten
Romans "Das Familientreffen" gelungen: schockierend offen, scharfsinnig
und von einer psychologischen Präzision, die kein Entrinnen zulässt. (DVA)
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