Anna Enquist: "Kontrapunkt"
Zerrissene Verbindungen
"Musik setzt im Chaos die Ordnung instand, namentlich die
Beziehung des Menschen zur Zeit."
Diese Aussage des russisch-französisch-us-amerikanischen
Komponisten Igor Strawinsky kann als Leitmotiv über dem tief
beeindruckenden Roman der 1945 in Amsterdam geborenen Anna Enquist stehen. Denn mit
Musik versucht die Autorin, den Verlust eines Menschen aufzuarbeiten: den Tod
ihrer Tochter.
Ihre Profession kommt ihr dabei sehr zu Gute - die
Niederländerin ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als
Psychoanalytikerin.
"Musik lehrt einen eigentümliche Dinge über
die Zeit (...) Musik führte
aus der Zeit heraus und schuf einen inneren Zustand, in dem von Zeit
noch keine
Rede war. Musik erfüllte so sehr, dass Uhren
aufhörten zu ticken. Und doch gab
kein anderes Medium das Verstreichen der Zeit so präzise an.
Musik synchronisierte die Schläge von Rudrern, konnte Soldaten
mühelos in Reih und Glied marschieren lassen, ließ zweitausend Menschen in einem
Saal in denselben Momenten Luft holen. Und Musik verwies auf ihr eigenes Verstummen, denn
in jedem Beginn wurde ein Ende angekündigt. So schmerzlich der
angekündigte Schluss war, man verlangte nach der Entfaltung der Melodie, nach dem
Vorübergleiten der Harmonien, ja sogar nach dem verfluchten Schluss", sinniert "die
Frau" - wie Anna Enquist ihre Protagonistin, ihr Alter Ego,
bezeichnet.
Wechselseitige Auseinander- und wieder Zueinanderbewegung
Mit der Einstudierung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian
Bach, einer der schwierigsten und einen unglaublich hohen Grad an
Virtuosität fordernden Klavierkompositionen, versucht sie, die langsam zu blassen
Gemeinplätzen geschrumpften Erinnerungen an ihre Tochter neu zu beleben. Durch die
Auseinandersetzung mit den dreißig Variationen, die von einer
solchen musikalischen Komplexität sind, dass sie einem mehr oder
weniger versierten Hörer den Verstand rauben, gleichzeitig aber auch für das Seelenheil
eines kranken bzw. leidenden Geistes sorgen können, gelingt es der
Protagonistin, eine Brücke zu bauen und letztendlich ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. Der
Druck der immer stärker an ihr ziehenden Zukunft wird gemindert und der
Vergangenheit die notwendige Nähe gestattet. "Durch das Klavierspiel
baute man eine Laufbrücke, einen wackligen Steg, der es zumindest erlaubte,
inmitten der Verwüstung umherzugehen und das lädierte Gebiet zu besichtigen."
Wie dies Anna Enquist stilistisch und kompositorisch gelingt, ist
großartig und ungemein einfallsreich. Sie hat ihr komplettes Romankonstrukt in das
spätbarocke Stück Bachs eingewebt. An den Beginn ihrer einzelnen Kapitel
stellt sie die jeweiligen Satzüberschriften des Originalwerks sowie die
ersten Takte. Den nachfolgenden Text verknüpft sie virtuos zu einer Melange aus
persönlichen Reminiszenzen, Stückinterpretationen sowie biografischen
Einflechtungen aus dem
Leben
Johann Sebastian Bachs. Hierbei lässt sie ihren
auktorialen Erzähler von "der Frau" sprechen, wenn sie die Musik analysiert
und von "der Mutter" wenn eigene Familienerlebnisse aufflammen.
Ihre Erinnerungen sind kein chronologischer Gedankenfluss, sondern so,
wie die Bilder in ihrem Kopf auftauchen - angeregt durch die
Auseinandersetzung
mit Bachs Musik -, lässt sie ihnen freien Lauf.
Überraschenderweise entstehen somit grandiose Dualitäten: keine makellose Einstimmigkeit von
Melodielinien, sondern eine wechselseitige Auseinander- und wieder Zueinanderbewegung,
ein Gespinst einander durchdringender Stimmen, die dennoch
Individualität erkennen lassen; ein harmonisches Gewirr, das trotzdem Akkorde bildet.
Kontinuierlich fortbewegende Klangwolke
Sie denkt an die schwere Geburt der Tochter, an Familienurlaube, den
ersten Schultag, das bestandene Examen, das enge Verhältnis der
beiden Geschwister (es gibt noch einen jüngeren Sohn), an Unfälle,
Missgeschicke, besondere Ereignisse oder auch nur alltägliche Erlebnisse einer innigen
Mutter-Tochter-Beziehung.
Enquist mischt Bachs und die Töne der Erinnerung gekonnt zu
einer "sich kontinuierlich fortbewegenden Klangwolke zusammen, in der das
Verschiedenartige" verschmilzt und dadurch ein harmonisches
Gefüge entsteht.
Der Horizont der immer mehr verblassenden Erlebnisse, der
Vergangenheit, wird nach und nach erweitert und liegt letztendlich klar und als komplettes
Bild vor ihr. Die Wut weicht einer distanzierten Gelassenheit, "der
aufgeregte Herzschlag hatte sich dem besonnenen Tempo angepasst. Das
Gemüt hatte sich beruhigt (...) Die Zeit bläst ihren heilenden Atem
über die Wunde, die allmählich zu einer Narbe verwachsen wird." Bachs Musik hat ihr wieder
Leben eingehaucht und den Mut gegeben, Zuflucht zur Sprache zu finden: "Das
Einprägen der Noten und das Entwirren der Melodien hatte ihr
lädiertes Hirn in Beschlag genommen. Im Takt der Musik hatte sie jeden Tag für
eine Weile unbefangen atmen können. Durch die Hintertür hatte
Bach ihr Zugang zu ihrem Gedächtnis verschafft: Jede Variation hatte Erinnerungen an
das Kind wachgerufen, die sie in dem Heft notiert hatte."
Zum uneingeschränkten Lesegenuss trägt gleichfalls
die herausragend einfühlsame und stilsichere Übersetzung von Hanni Ehlers bei, die dem
deutschsprachigen Publikum schon seit fast zwanzig Jahren Literatur aus dem
Niederländischen zugänglich macht und auf ein großes Übersetzungsoeuvre
zurückblicken kann. Neben Werken von
Connie
Palmen, Nelleke Noordervliet und Leon de Winter übersetzte sie zum Beispiel
auch Anna Enquists vorangegangen Roman "Letzte Reise".
Fazit:
Anna Enquist gelingt ein kleines Meisterwerk, das den Leser wie in
Trance hineingleiten und am Ende beinahe fiebrig und nur schwer wieder
auftauchen lässt. Noch lange nach dem Zuschlagen der letzten Seite ist man gefangen und
emotional bewegt. Ohne überbordende Empathie verarbeitet sie die
Tragödie ihrer Familie mit alltäglichen - einmal heiteren, dann wieder traurigen -
Erinnerungen aus der Vergangenheit und der Auseinandersetzung mit Musik.
Gleichzeitig führt sie auf unglaublich faszinierende und
einfühlsame Weise an ein beeindruckendes Werk - die Goldberg-Variationen - und vor allem
seinen grandiosen Schöpfer - Johann Sebastian Bach - heran.
Eine Empfehlung, dieses Buch ein zweites Mal, dann jedoch unbedingt
gemeinsam mit der unglaublichen Intensität der Goldberg-Variationen zu
"fühlen", wird unbedingt gegeben.
(Heike Geilen; 08/2008)
Anna
Enquist: "Kontrapunkt"
(Originaltitel "Contrapunt")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2008. 224 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2011.
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Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Das Meisterstück"
Noch drei Tage, dann hat der Maler Johan Steenkamer seine
große Ausstellung. In der Familie macht sich Aufregung breit: sogar Vater Charles Steenkamer,
selbst erfolgloser Maler, der die Söhne nach dem Krieg
verließ, wird nach 50 Jahren aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurück erwartet. Nur
Oskar, Johans unterlegener Bruder, nimmt sich fest vor, wegzubleiben. Doch dann
findet er im Magazin des Museums zufällig ein altes Bild seines Vaters
Charles, das einem Werk des Bruders auffällig gleicht. Er beschließt,
es mit in die Ausstellung zu bringen ... (btb)
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"Die Erbschaft des Herrn de Leon"
Als Kind schon fühlte sich Wanda Wiericke in der Musik
vollkommen aufgehoben. Später, als gefeierte Konzertpianistin, vermisste sie nichts
und niemanden, auch nicht ihren Mann. Jetzt, in einem Dorf in den
französischen Pyrenäen, spielt sie nur noch für sich. Und doch ist ihr, als fehlte
etwas, als habe ihr geliebter Klavierlehrer Max de Leon, der eines Tages für immer
verschwand und ihr einen Koffer voller Noten hinterließ, ein Geheimnis mit
sich genommen, das alles erklären könnte ... (btb)
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Noch ein Buchtipp:
Ingo Harden, Gregor Willmes: "PianistenProfile. 600 Interpreten: ihre
Biografie, ihr Stil, ihre Aufnahmen"
Dieses Handbuch porträtiert mehr als 600 Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts
mit den wichtigsten biografischen Informationen und Diskografien und
beschreibt deren pianistisches Profil, also die jeweils individuelle Kunst ihres
Klavierspiels, in anschaulicher und allgemeinverständlicher
Weise. So entsteht Eintrag für Eintrag das Mosaik einer großen Epoche
der Interpretation
von Klaviermusik. Die Diskografien stellen die
charakteristischen, bis 2007
vorliegenden Aufzeichnungen zusammen. (Bärenreiter Verlag)
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