György Dragomán: "Der weiße König"


Ein atemlos machender Schocker über die Ceauçescu-Diktatur

Achtzehn miteinander verwobene Geschichten berichten mit atemberaubender Intensität über einen Zeitraum von über einem Jahr Mitte der 1980er-Jahre in einer rumänischen Kleinstadt vom dramatischen Schicksal eines zehn-, am Ende zwölfjährigen Jungen, der durch die Verhaftung seines Vaters auf dramatische Art und Weise seiner Kindheit beraubt wird.

"Vater war schon seit einem halben Jahr nicht mehr bei uns, obwohl es geheißen hatte, dass er nur für eine Woche wegfahren würde, ans Meer, zu einer Forschungsstation, in einer äußerst dringlichen Angelegenheit, beim Abschied hatte er zu mir gesagt, wie leid es ihm tue, mich nicht mitnehmen zu können, denn das Meer biete jetzt, im Spätherbst, einen wirklich unvergesslichen Anblick, es sei viel wilder als im Sommer, werfe riesige gelbe Wellen, alles sei voll weißer Gischt, so weit das Auge reicht, macht nichts, hatte er versprochen, wenn er wieder nach Hause komme. werde er mich mitnehmen, um es mir zu zeigen, (...) egal, (...) wir hätten genug Zeit für alles, das ganze Leben liege noch vor uns ...", so beginnt György Dragomán seinen Roman.

Ob Dzsátá - der Ich-Erzähler - das Meer je zu Gesicht bekommt, bleibt unklar. Seinen Vater wird er jedenfalls beinahe zwei Jahren lang nicht mehr sehen, dann wiederum auch nur für wenige Augenblicke und als gebrochenen Mann. Mit dessen Unterschrift auf einer systemkritischen Petition wurde er zum Staatsfeind erklärt und eines Morgens vom rumänischen Geheimdienst, der berühmt berüchtigten Securitate, abgeholt und zur Zwangsarbeit am Donaukanal deportiert, einer dem stalinistischen Gulag gleichkommenden menschlichen Folterkammer, der viele nicht mehr lebend entkamen.

"Abnorme jüdische Hure"
Seither ist für Dzsátá nichts mehr wie früher. Die Unbeschwertheit seiner Kindheit scheint mit einem Mal vorbei. Das Geld, das seine Mutter durch Zeitungsaustragen verdient, reicht nicht zum Überleben. Nur durch einen illegalen Nebenverdienst kann die ihres Vaters beraubte kleine Familie mehr schlecht als recht existieren. Denn Dzsátás Mutter verlor auf Grund dieser von ihrem Mann unterschriebenen Petition ihre Anstellung als Lehrerin.
Hilfe von ihrem Schwiegervater ist nicht zu erwarten, denn auch dieser musste von seinem hohen Amt eines städtischen Parteisekretärs zurücktreten und macht seither die "abnorme jüdische Hure" für das Fehlverhalten seines Sohnes verantwortlich.

Die Einzelheiten dringen erst nach und nach zu dem kleinen Ich-Erzähler und damit auch zum Leser durch. Kindlich unbedarft und beinahe unbeschwert beginnt Dzsátá von seinen Erlebnissen zu berichten, davon wie er seiner Mutter zu deren 15. Hochzeitstag einen riesengroßen Strauß Tulpen "besorgt", um ihr eine Freude zu machen, da auch Vater bei derartigen Anlässen immer diese von ihr so geliebten Blumen auf den Tisch stellte.
Auch die Versuche, unbedingt krank zu werden oder sich zu verletzen - sei es durch Trinken von eiskaltem Wasser oder einen Sprung in einen tiefen Graben -, weil Dzsátá und sein Freund das Geld der Klassenkasse, welches für Fahnen und Transparentmaterial zum Aufmarsch am Ersten Mai gedacht war, beim Glücksspiel verloren haben, erzeugen beim Leser noch das ein oder andere Schmunzeln, werden als "Dummejungen"-Streiche und kindliche Lausbubengeschichten gelesen.

Korrupte Funktionäre, Brutalität, Verrat und Erpressung
Doch nach und nach zieht ein bedrohlicher Schatten über die kindliche Erzählwelt. Die Spiele werden brutaler, und die Beobachtungen des Jungen offenbaren eine beinahe mörderische Aggressivität der Gesellschaft.
Da wird seine erste Verliebtheit zu seiner Klassenkameradin Iza von Zeichen schwerer Misshandlungen durch ihren Onkel überschattet, denn ihr Körper ist von blauen Flecken übersät.
Da übersteigt die an der Tagesordnung stehende "gewöhnliche Schülerzüchtigung" der Lehrerschaft das "normale" Maß gewaltig. Anstiftung ihrer Zöglinge zu Lug und Trug stellen dabei noch "geringfügige" Vergehen dar.

Zuguterletzt wird der Streit mit den Nachbarjungen um einen Fußball mittels eines "Kriegsspiels" ausgetragen, welches am Ende brutal eskaliert und mit geköpften Tauben, in Schultern gerammten Taschenmessern und dem Niederbrennen eines ganzen Weizenfelds endet. Die anschließende Rache der unterlegenen Gruppe erfolgt mit einem hinterhältigen Angriff, bei dem auf den Sieger mit Ziegelsteinen in Plastiktüten eingeschlagen wird.

Auch der Reaktorunfall in Tschernobyl fließt in eine Erzählung ein, bei der ein Kind seine Gesinnung, (seine Eltern gehören den Zeugen Jehovas an), und seine Weigerung, sich in das radioaktiv verseuchte Gras fallen zulassen, mit dem Leben bezahlen muss, als der brutale Trainer seinen Gehorsam aus ihm herausprügeln will.

Sprachmächtige und ergreifende Geschichte
Korrupte Funktionäre, Erpressung, Brutalität, Angst, Verzweiflung, Verrat, Ausgeliefertsein, körperliche und seelische Gewalt durchziehen latent metaphorisch alle Geschichten, denn mit dem Vater ist nicht nur Dzsátá das Gesetz abhanden gekommen: auch der bis ins Mark kranken Gesellschaft, die in völliger Agonie erstarrt zu sein scheint.

Aber auch Hoffnung, Trotz und Liebe bestimmen die großartigen Zeilen des in Budapest lebenden Schriftstellers, der die ersten 15 Jahre seines Lebens in Marosvásárhely (Rumänien), als Mitglied der in Transsylvanien lebenden ungarischen Minderheit, verbrachte. 1988 siedelt seine Familie nach Ungarn über.

Dragománs Roman wartet mit derart emotionaler Wucht und Dichte auf, dass man von Zeit zu Zeit durchatmen muss. Durch die unschuldigen kindlichen Augen des jungen Dzsátá gesehen, trifft den Leser das Ungeheuerliche, die "höllische Melange" des Erzählens mit doppelter Intensität.
Doch der Autor zeichnet nicht nur ein düsteres Weltuntergangszenario, sondern er setzt mit der wunderbaren Anmut der Sprache des Ich-Erzählers, mit Sätzen, die teilweise über mehrere Seiten gehen und den Leser geradezu vorwärts treiben, einen Funken Hoffnung und so etwas wie Licht ans Ende des Tunnels.

Die sprachmächtigen und ergreifenden Geschichten, die in ihrer Gesamtheit einen vielschichtigen und komplexen Roman ergeben, haben in Laszlo Kornitzer einen großartigen Übersetzer gefunden. Er machte dem deutschsprachigen Leser den ganz eigenen Ton Dragománs ohne Abstriche zugänglich.

Fazit:
György Dragomán verzaubert und terrorisiert zeitgleich in seinem Roman "Der weiße König". Es handelt sich um ein Buch über das Erwachsenwerden eines Jungen im Alltag einer totalitären kommunistischen Diktatur.
Ein Autor, den man fortan nicht mehr überhören wird. Ein Geheimtipp, der bald in aller Munde sein wird.

(Heike Geilen)


György Dragomán: "Der weiße König"
(Originaltitel "A fehér király")
Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer.
Suhrkamp. 293 Seiten.
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