Roddy Doyle: "Paula Spencer"
Eine bewegende, erschütternde
aber auch Mut machende Geschichte
Als der Roman beginnt, ist Paula 48 Jahre alt und blickt auf eine erstaunliche
Alkoholikerkarriere zurück. Roddy Doyle erzählt die Geschichte einer Frau aus
der Unterschicht des modernen
Irland,
die Geschichte einer Selbstheilung, eines Erwachens aus der Dunkelheit der Sucht
mit all ihren Folgen für die Mitmenschen im Familien- und Bekanntenkreis hin zu
neuer Bewusstheit von Leben und Gefühlen.
Paula Spencer ist seit Jahren Witwe, nachdem ihr Mann bei einem Raubüberfall
von der Polizei erschossen wurde. Das hat sie allerdings damals nicht nur wegen
ihrer Trinksucht recht wenig berührt, denn lange vorher schon hatte sie ihn
hinausgeworfen und damit als ersten Akt ihrer Selbstbefreiung einen
Schlussstrich unter eine ihr ewig vorkommende Zeit von Prügeln und ehelicher
Gewalt gezogen.
Paula Spencer hat drei Kinder groß gezogen, trotz allem hat sie immer ihr
Bestes versucht; mit unterschiedlichem Erfolg. John Paul ist früh als
Jugendlicher in die Drogensucht gerutscht, hat sich aber davon befreit und lebt
jetzt mit seinen Kindern als Familienvater. Ihre Tochter Nicola hat offenbar die
für die Entwicklung von Kindern ungünstige Familiensituation am besten überlebt.
Sie zeigt keinerlei Anzeichen von Sucht, hat die Schule gut abgeschlossen und
ist in ihrem Beruf und Leben erfolgreich. Doch ihrer Mutter und dem Rest der
Familie gegenüber verhält sie sich distanziert und selbstgerecht, was
insbesondere Paula schwer zu schaffen macht, ist sie doch so stolz auf ihre
Prachttochter.
Jack, der jüngste Sohn, ist das, was man als co-abhängig bezeichnet. Selbst
vollkommen abstinent, wacht er fast täglich darüber, dass die Mutter, die er
auf seine Art liebt, nicht wieder zur Flasche greift und gibt zeitweise den
Oberkontrollor.
Denn als Roddy Doyle mit Paulas Geschichte beginnt, ist sie gerade seit vier
Monaten und fünf Tagen trocken; so lange, wie sie es noch nie zuvor geschafft
hat. Sie hat Arbeit, mit der sie ihren kargen Lebensunterhalt bestreiten kann.
Sie ist Leiterin einer Putzkolonne, in der sie neben Frauen aus Schwarzafrika
und Osteuropa die einzige Irin ist.
Sie ist stolz auf ihre Abstinenz, und sie kämpft. Sie kämpft mit der beißenden
Sucht, die immer wieder, besonders aber in schwierigen Situationen, sie fast
wieder zur Flasche greifen lässt. Sie kämpft mit ihrer Vergangenheit, die ihr,
je wacher und bewusster sie ohne Alkohol wird, täglich mehr vor Augen steht.
Ein erbärmliches Leben, auf das sie dennoch immer wieder mit Stolz zurückblickt,
denn nicht alles war schlecht.
Doyle lässt sie immer wieder zurückblicken, während ihres Kampfes um ein
neues Leben mit Zukunft und fügt mit diesem Buch einen weiteren Teil seiner
schon mit anderen Romanen begonnenen Chronik des alten und des neuen Irland
hinzu.
Und Paula kämpft um ihre Kinder sowie um eine Form von Beziehung zu ihnen, die
sie nun neu begründen muss. Denn als Folge der Sucht können sie an nichts anknüpfen.
So kämpft sie sich jeden Tag neu tapfer durch ihr Leben. Sie macht immer neue
Schritte in ihre Selbstständigkeit und Sicherheit, Zustände und Gefühle, die
vollkommen neu für sie sind. Und so wird die ehedem misshandelte Frau, die sich
im Alkohol aufgab, zur Anwältin ihre eigenen Lebens.
Wie Roddy Doyle ohne Pathos und doch sehr sensibel für Töne und Zwischentöne
diesen Befreiungsprozess einer irischen Frau schildert, ist hervorragende
Literatur. Er erzählt eine alltägliche Geschichte, die aber leider nie sonst
erzählt wird, sondern von den Individuen unspektakulär erlitten wird. Er hebt
eine Frau, die "unsichtbar" war, ans literarische Licht und lässt den
betroffenen Leser an einem Schicksal teilhaben, das selten in Romanen so
beschrieben wurde.
Fazit:
"Paula Spencer" ist ein Roman, der von der zerstörerischen Wirkung
von Alkohol und ehelicher und häuslicher Gewalt sowie von der Befreiung daraus
erzählt; ein Roman, der selbiges ohne anzuklagen oder selbstgerecht zu werden
bewerkstelligt. Ein gelungener Versuch, in die Lebenswelt von Menschen
einzutauchen, die sonst in Büchern nicht vorkommen.
Ein Roman von tiefer, von großer Menschlichkeit.
(Winfried Stanzick; 11/2008)
Roddy
Doyle: "Paula Spencer"
Übersetzt von Renate Orth-Guttmann.
Hanser, 2008. 301 Seiten.
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