Hanjo Kesting: "Ein Blatt vom Machandelbaum"

Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945


Gerichtstag halten über das eigene Ich

Vierzehn Schriftstellerporträts und halb so viele Kurzessays über Literaturkritiker, die um die Kriegsjahre in Deutschland gelebt bzw. geschrieben haben, versammelt Hanjo Kesting in seinem Buch "Ein Blatt vom Machandelbaum" und verknüpft alles virtuos mit dem Leitmotiv eines Grimmschen Märchens, das von verdrängter Schuld handelt.

"Er war ein gefeierter, weltberühmter Schriftsteller, aber seine Biografie liest sich über lange Strecken wie eine Leidensgeschichte. Man machte ihn zur moralischen Instanz und Vorzeigefigur, aber das hinderte seine Gegner nicht, ihn unbarmherzig zu verfolgen. Nach seinem Tod hat man Schulen und Straßen nach ihm benannt, doch war er zu Lebzeiten ein unbequemer Schriftsteller, der wie kein anderer dazu beitrug, den trügerischen Frieden der westdeutschen Republik zu stören. So glich sein Leben einem bösen und traurigen Märchen, dem Hans Magnus Enzensberger die Überschrift gab: 'Der arme Heinrich'", so beginnt der 1943 geborene ehemalige Leiter der Redaktion "Kulturelles Wort" beim "Norddeutschen Rundfunk", der 1977 die Reihe "Autoren lesen" und 1981 das Kulturjournal "Texte und Zeichen" gründete, eines seiner Autorenporträts. Hier reflektiert er das Leben eines Außenseiters, der wider Willen zum Repräsentanten wurde, der Geld und Reichtum verabscheute, dem sich jedoch der Erfolg an die Fersen heftete und ihn reich werden ließ, der in frühen Jahren die Stimme der "Trümmergeneration" war und mit vierundfünfzig die höchste Auszeichnung, die die literarische Welt zu vergeben hatte, erhielt: den Literaturnobelpreis. Sein Name: Heinrich Böll.

Feinfühlig nuancierte Autorenporträts
Gemeinsam mit dem beinahe vergessenen Ernst Schnabel und dem "geschlagenen Revolutionär" und Autor der "Franz-Kien-Geschichten" Alfred Andersch setzt Kesting Böll als Vertreter der "verspäteten Generation". Vorangefügt hat er Porträts von Schriftstellern, die bereits zwischen den beiden Weltkriegen wirkten (Erich Kästner, Klaus Mann, Sebastian Haffner und Carl Zuckmayer). Die Zeit der Nazidiktatur wiederum offeriert eine große Lücke und Leere, die Kesting mit Textcollagen verschiedenster Autoren - aufgebaut wie ein eigener Roman mit Prolog und Epilog - füllt:

"Es wird viel einfacher sein, ihre Städte wieder aufzubauen als sie dazu zu bringen, zu erfahren, was sie erfahren haben und zu verstehen, wie es kam" (Alfred Döblin, "Schicksalsreise").
"Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt" (Hannah Ahrend, "Besuch in Deutschland").
"Der Gleichmut, mit dem die Deutschen gleich nach dem Krieg durch ihre zu Steinwüsten bombardierten Städte trotteten, mit dem sie hungernden und hamsterten, den Verlust ihrer Ämter, ihres Eigentums, ihrer Überzeugungen ertrugen, wie willig und demütig sie mit den Besatzungsbehörden koordinierten - das alles hat ausländische Beobachter schon damals bis zur schieren Fassungslosigkeit erstaunt, weniger die Deutschen selbst" (Reinhard Baumgart, "Damals. Ein Leben in Deutschland").

Vor die abschließende Gruppe der "Gründerfiguren", die solch große Namen wie Siegfried Lenz, Walter Kempowski, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass, aber auch weniger populäre wie Rolf Hochhuth und Gisela Elsner enthält, fügt Kesting sieben kurze Porträts der Kritikerzunft, angeführt von Marcel Reich-Ranicki bis Fritz J. Raddatz.

Alle Essays sind nicht nur biografische Abhandlungen des jeweiligen Autors, sondern Kesting betrachtet den Schriftsteller und sein Werk stets in einem konturierten und atmosphärischen Zusammenhang.
Besonders hervorzuheben ist die feinfühlige Nuancierung seiner Porträts, die nicht nur das "Wer ist wer" verschiedener Autorengenerationen ausleuchtet, sondern auch den weniger populären, mitunter gar in Vergessenheit geratenen Literaten betrachtet.

Intellektuelle, aber leicht lesbare Texte
Der Buchtitel - "Ein Blatt vom Machandelbaum" - fungiert zugleich als Leitmotiv. Pate stand dabei eines der grausamsten Märchen aus der Grimmschen Sammlung: "Von dem Machandelbaum". Darin ermordet und schlachtet die Stiefmutter den Sohn aus erster Ehe, bereitet ihn zu und setzt ihn abends dem Vater zum Essen vor. Die Schwester, Tochter aus zweiter Ehe, war beim Mord zugegen, traut sich aber nichts zu berichten. Sie vergräbt die Knöchelchen des Bruders unter dem Machandelbaum (Lorbeerbaum) im Garten, aus denen ein Vogel entsteht, der die böse Tat besingt, Rache übt und sich wieder in den Knaben verwandelt. Er richtet somit über Böse und Gute und hat letztendlich die Wahrheit auf seiner Seite.

Von verdrängter Schuld handelt dieses Märchen, und viele Autoren von Brecht über Heinrich Heine, Marie-Luise Kaschnitz bis zu Hans Magnus Enzensberger haben es aufgegriffen und thematisch weitergeführt. Ihre Texte sind den einzelnen Kapiteln in Auszügen vorangesetzt. Und offen, aber auch indirekt, beschäftigten sich alle in Kestings Buch versammelten Autoren in ihren Werken mit der Schuldfrage, bezogen natürlich auf das Verbrechen ihres Vaterlandes, und "wie es möglich wurde, dass die Deutschen, nach einer zwar nicht immer nur glanzvollen, aber überaus reichen und kulturell einzigartig profunden Geschichte in den entsetzlichsten Abgrund geraten konnten, in den jemals ein Volk gestürzt ist."
Ibsens Satz: "Leben heißt: dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich; Dichten: Gerichtstag halten über das eigene Ich", gewinnt bei der Lektüre der einzelnen Porträts nahezu eminente Aktualität. Günter Grass' "Beim Häuten der Zwiebel" ist jüngstes Beispiel dafür.

Trotz seines intellektuellen und von großer Belesenheit kündenden Schreibstils zeichnen sich Hanjo Kestings Texte durch leichte Lesbarkeit aus. Dieser absolut gelungene Spagat öffnet das großartige Werk einer breiten literaturinteressierten Leserschaft. Eine Fülle von Anregungen verführt zur Lektüre der vorgestellten Autoren und erlaubt vielfach einen äußerst sensiblen und vor allem wachen Blick hinter manch oberflächlich strukturiertes Bild.

Fazit:
Kestings ungewöhnlich kluge Essays sind neben kompakten, aber hoch informativen Autorenporträts gleichzeitig geschichtliches Dokument, historische Analyse und ein Werk der Literatur.
"Kunst ist eine der wenigen Möglichkeiten, Leben zu haben und Leben zu halten, für den, der sie macht, und für den, der sie empfängt"; diese Worte Heinrich Bölls können stellvertretend für dieses stille, aber rhetorisch und sprachlich eindringliche Werk Hanjo Kestings stehen, oder um Nietzsches Zarathustra-Vers abzuwandeln: "Und jedes Blatt will Ewigkeit".

(Heike Geilen; 07/2008)


Hanjo Kesting: "Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945"
Wallstein Verlag, 2008. 284 Seiten.
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Hanjo Kesting, geboren 1943 in Wuppertal, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte in Köln, Tübingen und Hamburg.

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Dreißig vergessene Dichterinnen und Dichter des "anderen Deutschland"
Zu den "verbrannten", verbotenen und vertriebenen Autoren in der NS-Zeit gehörten nicht nur so bekannte Namen wie Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Alfred Döblin, sondern auch heute weitgehend vergessene Persönlichkeiten. Zu ihrer Zeit waren sie gerühmt und geachtet, hatten ein großes Publikum und erhielten Preise und Anerkennungen. Das äußere wie innere Exil machte sie häufig mundtot. Es sind gebrochene Biografien und zerstörte Karrieren. Zugleich sind diese Autoren wichtige Zeitzeugen und Repräsentanten des "anderen", integren Deutschland.
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Volker Weidermann: "Das Buch der verbrannten Bücher"

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Nach dem überwältigenden Erfolg von "Lichtjahre", seiner kurzen Geschichte der deutschen Literatur nach 1945, wendet Volker Weidermann den Blick zurück auf den Tag, an dem in Deutschland die Bücher brannten. Seine Mission: diese Bücher, diese Autoren dem Vergessen entreißen!
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Volker Weidermann erzählt, wie dieser Tag verlief, an dem es trotzig regnete, er erzählt von dem Bibliothekar Herrmann, der die Urliste aller Listen erstellte, nach denen dann die Scheiterhaufen bedient wurden, und er erzählt von den Werken und ihren Autoren - und davon, wie willfährige Buchhändler und Bibliothekare die Bücher aus ihren Regalen entfernten, so gründlich, dass viele Werke und Autoren danach nicht wieder zum Vorschein kamen.
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Volker Weidermann: "Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute"
Scharfzüngig und humorvoll führt Volker Weidermann durch 60 Jahre Literaturgeschichte - von den Exilanten der Kriegszeit wie Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger bis zur Gegenwartsliteratur der jungen Pop-Fraktion mit Vertretern wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht. 
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Stefan Ernsting: "Der phantastische Rebell Alexander Moritz Frey oder Hitler schießt dramatisch in die Luft"
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A. M. Frey war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sich niemals von den Nazis hat vereinnahmen lassen und dessen scharfsinnige Bücher und spannende Exil-Biografie auf eine längst fällige Wiederentdeckung warten. (Atrium Verlag)
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