Polina Daschkowa: "Das Haus der bösen Mädchen"
Polina
Daschkowa gilt in Russland
mittlerweile als bekannte Krimiautorin, und auch in deutscher
Übersetzung sind
bereits einige Titel der Autorin erschienen. Das neueste Werk in
deutscher
Sprache heißt "Das Haus der bösen Mädchen"
und ist im Juli 2008
beim Aufbau-Verlag erschienen. Das 393-seitige Buch wurde von Ganna
Maria
Braungardt ins Deutsche übertragen.
Nachts stoßen Polizisten per Zufall mit einem etwa
vierzehnjährigen Mädchen,
Ljussja, zusammen, die den Polizisten sogleich bereitwillig
erzählt, dass sie
ihre Tante erstochen habe. Die Polizisten folgen dem Mädchen
und finden in der
Wohnung tatsächlich die Leiche einer niedergestochenen Frau.
Ljussja wird bis
auf Weiteres ins Krankenhaus gebracht, zumal sie geistig
zurückgeblieben
erscheint. Im Grunde freut sich die Miliz: Der Fall ist eindeutig, das
Geständnis
liegt vor.
Als die Obdachlose Simka ermordet in einer Wohnung gefunden wird, ist
auch hier
der Täter rasch gefunden: Zwar beteuert Simkas
Lebensgefährte, er habe sie
nicht getötet, doch man weiß ja, welche Dramen sich
bei
Trinkern im Suff so
abspielen können. Auch hier also wenige Fragen und klare
Antworten.
Borodin ist mit Leib und Seele bei der Miliz, einfach Kriminalist aus
Leidenschaft. Er glaubt nicht daran, dass die debile Ljussja ihre Tante
ermordet
hat, genauso zweifelt er an dem vermuteten Mord an Simka durch ihren
Lebensgefährten,
zumal Simka als indirekte Zeugin des erstes Mordes galt. Borodin
ermittelt, zum
Ärger seiner Kollegen, und seine Spürnase scheint ihm
Recht zu geben. Es
geschieht noch mehr Seltsames, das mit den beiden Fällen zu
tun zu haben
scheint, und Borodin brennt darauf, die einzelnen Puzzlestücke
zusammenzusetzen: Warum existieren keine Papiere von Ljussja, und warum
ist das
Heim nicht ausfindig zu machen, in dem sie einen Großteil
ihres Lebens
verbracht hat? War Simka schlicht verrückt, oder hat sie
wirklich einen Mann
mit einer Teufelsmaske nach dem Mord an Ljussjas Tante gesehen? Was hat
der
stellvertretende Chefredakteur eines Jugendmagazins damit zu tun, und
wer steckt
hinter "Mama Isa", deren Name des Öfteren fällt? Der
Fall wird immer
komplexer, doch Borodin ist entschlossen, ihn zu lösen.
Für den Leser des Tüftlertyps ist "Das Haus der
bösen Mädchen"
nicht der richtige Titel, soviel darf schon einmal vorweggenommen
werden. Der
Klappentext verrät bereits mehr als die Inhaltsangabe dieser
Rezension,
allerdings ist auch der Einstieg ins Buch nicht allzu verworren.
Bereits nach
etwa zwanzig Seiten vermutet der Leser unweigerlich, wer Ljussjas Tante
ermordet
hat und hat sogar eine Ahnung, warum. Man liest im Grunde nur weiter,
um diese
Annahme bestätigt zu finden oder aber bewiesen zu bekommen,
dass man auf dem
Holzweg gewesen ist. Etwas gewagt, denn knappe vierhundert Seiten eben
darauf zu
warten, das schreckt sicher einige Leser bereits im Vorfeld ab, und
"Das
Haus der bösen Mädchen" läuft dann Gefahr,
letztlich unentdeckt und
ungelesen zu sein.
Dabei hatte Polina Daschkowa nach eigener Aussage wohl
tatsächlich gar nicht
die Absicht, hier in erster Linie einen typischen Kriminalroman zu
präsentieren,
eine sehr wertvolle Information, die Enttäuschung ersparen und
den Lesegenuss fördern
kann. Die besondere Stärke der Autorin liegt nämlich
in der Charakterisierung
von Personen und in der Vermischung alltäglicher und
ungewöhnlicher Elemente,
in der Verstrickung verschiedener Lebensbereiche und Personenkreise, in
der
glaubhaften Beschreibung von Gefühlen, Verhaltensweisen und
Ängsten.
Daschkowas Charaktere sind durch und durch echt, typisch russisch und
dennoch
keine Stereotypen. Kaum hat man jemanden als Nebenfigur eingeordnet,
überrascht
die Autorin mit spannenden Details aus dem Leben und aus den
Hintergründen
dieser Person und macht diese sogleich nahbarer und auch "wichtiger"
für
den Leser. Rein funktionsorientierte Figuren gibt es bei Daschkowa so
gut wie
gar nicht.
Die Sicht- und Herangehensweise der Autorin macht "Das Haus der
bösen Mädchen"
zu einem besonderen Buch. Leicht und flüssig zu lesen, ein
bisschen Krimi, ein
bisschen Voyeurismus (wenn es um die privaten und teils pikanten
Details der
Figuren geht), ein bisschen Alltag. Man will nicht nur erfahren, wer
der Mörder
war, sondern möchte auch herausfinden, wie Xenia Oleg kennen
lernte, ob Borodin
seine Diät durchhält und warum Warja
aufgehört hat zu rauchen.
Polina
Daschkowa unterhält damit ausgezeichnet und zugleich
leichtfüßig, und doch
sind in mancher Szene die Nerven des Lesers gespannt wie Drahtseile.
Das Einzige, was wirklich gar nicht gelungen ist bei diesem Buch, ist
die
Aufmachung. Der deutsche Titel ist ausgesprochen reißerisch
und schiebt das
Buch in eine Ecke, in die es eigentlich nicht hinein gehört,
so dass es nicht
unwahrscheinlich ist, dass viele das Buch nach der Auswahl
über den Titel
liegen lassen oder vom Inhalt eher enttäuscht sind. Dass der
Klappentext so
ausführlich ausfällt, nimmt dem Leser zudem einiges
an Spannung, die sich
durch den Handlungsfaden selbst überhaupt aufbaut, wenn man
die
vorbeschriebenen Details und den damit verbundenen Voyeurismus des
Lesers außer
Acht lässt.
Wer die letzten Seiten eines Buches, sprich: die Werbung, nicht zu
beachten
pflegt, verpasst bei diesem Titel im Übrigen ein kurzes,
zweiseitiges Interview
mit der Autorin, das nach dem Epilog eingepflegt wurde, sowie einige
biografische Hintergrundinformationen und gezielte Werbung für
andere
deutschsprachige Werke von Polina Daschkowa.
Insgesamt sehr schade, darum an dieser Stelle nochmals die
bekräftigte
Empfehlung an unentschlossene Interessenten: Dieses Buch zu lesen lohnt
sich!
(Tanja Thome; 08/2008)
Polina
Daschkowa: "Das Haus der bösen Mädchen"
(Originaltitel "Pitomnik")
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Aufbau-Verlagsgruppe, 2008. 393 Seiten.
Buch
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