Antonio Dal Masetto: "Als wäre alles erst gestern gewesen"
Melancholische
Erinnerungen an die Heimat
Mit zwölf Jahren (im Jahr 1950) wanderte Antonio Dal Masetto
mit seinen Eltern nach Argentinien aus. Geboren wurde er im
norditalienischen Intra (Verbania) am Lago Maggiore. Der Autor steht
sozusagen zwischen den Stühlen. Haben ihn die italienischen
oder die argentinischen Einflüsse mehr geprägt? In
seinen bislang acht Romanen und etlichen Erzählbänden
spürt man eher die Auseinandersetzung mit dem Herkunftsland
des Tangos. Ganz anders jedoch der 1990 geschriebene, nunmehr erstmals
auf Deutsch vorliegende Roman "Als wäre alles erst gestern
gewesen". Eine Reminiszenz an die Wurzeln seiner Herkunft.
Auch stilistisch offenbart sich das Buch ganz anders als des Autors
bisheriges
Oeuvre. Ein stilles und leises Werk Dal Masettos. Ein bezauberndes
Familienepos über seine Familie, die Mitte des 20.
Jahrhunderts zu neuen Ufern aufbricht und ihr Glück im fernen
Südamerika sucht. Nach dem
Zweiten Weltkrieg war Argentinien
ein beliebtes Einwanderungsland. Viele italienische Emigranten bauten
sich dort eine neue Existenz auf, und Dank dieser Emigranten konnte
Italien seine Kultur, Sprache und sein "savoir-vivre" in die ganze Welt
hinaustragen. Es ist mitunter der Verdienst von italienischen
Einwanderern, dass Argentinien heute das ist, was es ist: Die kleine
Schwester Italiens bzw. das zweite Mutterland.
In "Oscuramente fuerte es la vida" - so der Originaltitel -
lässt Dal Masetto die 1911 geborene und fast
achtzigjährige Agata, bei der sicherlich seine Mutter Maria
Rosa Cerutti Pate stand, erzählen. Agata vermittelt dem Leser
auf bezaubernde Art und Weise ihre konservierten
Sinneseindrücke, die Düfte, Geschmäcker und
Klänge ihrer italienischen Heimat, die sich trotz der anonymen
Gerüche der neuen Welt nicht vermischt und verloren haben.
Ihre Erinnerungen "tauchten aus einer Zeit auf, die weit
zurückzuliegen schien, und bescherten immer noch dasselbe
sanfte Staunen." Dal Masetto hüllt sie in ein
literarisches Gewand.
Als wäre alles erst gestern gewesen
Den im Roman gewählten Ortsnamen Tarni wird man auf einer
Landkarte vergeblich suchen. Doch das sofort erkennbare Anagramm und
die detaillierten Beschreibungen lassen unschwer Dal Masettos
Geburtsort Intra erkennen. Die Ebenen und weiten Horizonte Argentiniens
werden durch die herrliche Lage am Borromäischen Golf
unterhalb der Hänge der Italienischen Alpen, die den See
umrahmen, ausgetauscht.
"Seit wir nach dem Krieg nach Argentinien gekommen sind, denke
ich noch immer an jene Landschaft und jene Leute, und ich staune selber
darüber, dass ich täglich etwas Neues in meinen
Erinnerungen entdecke. Ich verweile bei diesen Erinnerungen, wenn ich
allein bin, und hin und wieder erzähle ich meinen Enkeln die
eine oder andere Geschichte. Wer in dieser lauten und hektischen Welt
lebt, denkt bestimmt, dass es Geschichten aus einem unwirklichen Land
sind, Geschichten, die im Nebel einer Zeit verschwunden sind, die ihnen
immer fremd sein wird. Für mich hingegen ist es immer so, als
wäre alles erst gestern gewesen", sinniert Agata.
Ganz sanft beginnt Dal Masettos Erzählung. Man ist nahezu
überrascht von den liebevollen Personen- und
ausgeprägten Landschaftsbeschreibungen. Agata erzählt
von ihrer Kindheit in ärmlichen Verhältnissen und dem
Vater, der nie lachte und sehr schweigsam war, dessen Liebe aber
trotzdem spürbar war: "Für mich jedenfalls
waren sein Schweigen und sein Verhalten ein Leitbild, das mich nach und
nach formte." Sie berichtet von ihrer bettlägerigen
Mutter, die früh starb, von den Großeltern ("Meine
Großmutter habe ich als kleine und rührige Frau mit
krausem Haar und Mittelscheitel in Erinnerung."), von
Freunden und Freundschaften.
Agata lässt den Leser an ihren Kinderstreichen, dem
verzweifelten Ausbruchversuch aus einem Klosterinternat, in das man sie
nach dem Tod der Mutter brachte, und an ihrer permanenten,
unterschwelligen, schweren und geheimen Last - der Angst - teilhaben. "Ihr
gegenüber war ich allein. Und selbst später, als ich
größer war, brachte mich diese frühe
Beklommenheit, dieses Gefühl von Bedrohung - wenn auch in
verwandelter Form - noch genauso aus der Ruhe wie damals."
Aufbruch zu neuen Ufern
Und ehe man sich versieht, ist aus dem kleinen Mädchen eine
junge Frau geworden, die nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1929 ganz
allein Haus und Unterhalt bestreiten muss. Man leidet mit ihr, als die
erste Liebe, ein Geiger aus dem im Dorf aufspielenden Tanzorchester,
nicht mehr auftaucht und nimmt an der langsam wachsenden Zuneigung zu
ihrem späteren Ehemann Mario Anteil, freut sich über
die Geburt der beiden Kinder Guido und Elsa.
Doch langsam schleicht sich eine unterschwellige Bedrohung in Agatas
Leben. Faschismus und später der Zweite Weltkrieg machen auch
vor dem scheinbar idyllischen Ort nicht Halt. Die Protagonistin wird
nicht von Waffengewalt, Bombenmassaker und nächtlichem Terror
verschont. Doch sie hat gelernt, die Veränderlichkeit der
Dinge in ihrem Wechselspiel wahrzunehmen, "dass sie immer da
sein würden, fest wie ein Anker, und dass sie sich
früher oder später wieder verwandeln und lebendige
Farben annehmen würden."
Das Buch endet am Morgen der Abreise, dem Aufbruch zu neuen Ufern, der
Agata und ihre beiden Kinder wieder mit dem Mann und Vater vereinen
wird. Mario war bereits einige Monate früher abgereist, um
für seine Familie das neue Heim zu richten. "Es war
seltsam festzustellen, wie der Himmel wieder Farbe bekam, dass alles
wie gewohnt in Licht getaucht wurde, und dabei zu wissen, dass wir in
Kürze unsere Reise antreten würden und all das
zurückblieb. Ich versuchte mir jede Einzelheit
einzuprägen, vielleicht, um mich später daran zu
erinnern, um nicht alles zu verlieren und etwas an diesem
Abschiedsmorgen mitzunehmen."
Fazit:
Auch wenn in Dal Masettos Roman unterschwellig bereits die Fremdheit
und die Verwerfungen, die Auswanderung in einem Menschen
auslösen können, zu spüren sind, so sprudelt
seine Erzählung größtenteils wie ein klarer
Gebirgsbach, "in der Bewegung des Wassers, das unentwegt
dahinfloss". "Als wäre alles erst gestern gewesen"
ist eine Ode an die Menschen, die seine Mutter umgaben und
geprägt haben und eine Erinnerung an ihre Heimat.
(Heike Geilen; 10/2008)
Antonio
Dal
Masetto: "Als wäre alles erst gestern gewesen"
(Originaltitel "Oscuramente fuerte es la vida")
Aus dem Spanischen von Susanna Mende.
Rotpunktverlag, 2008. 260 Seiten.
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