Alonso Cueto: "Das Flüstern der Walfrau"
Tanz,
Pummelchen, tanz
"Die Vergangenheit ist ein
Kontrolleur. Regelmäßig stellt sie
überraschende Fallen. Plötzlich ist sie
wie durch einen Zauber da. Sie ist ein Schatten mit sehnigen
Händen, hat keine
Gesichtszüge, kein Alter. Sie überreicht und ein
leeres Blatt. Wir weigern
uns. Aber sie bedrängt uns mit ihrer harten,
ruhigen, kühlen Stimme. Sie
wird wiederkommen."
So beginnt die Ich-Erzählerin Verónica, um die
Vierzig, Journalistin im Ressort Internationales einer Zeitung, eine
Rede anlässlich
einer Buchpräsentation. Während dieser Veranstaltung
wird sie auf
unvorhersehbare, schreckliche und blutige Art und Weise von ihrer
Vergangenheit
eingeholt. Dieser Vorfall hat ihr jedoch gleichzeitig die Augen
geöffnet, vor
ihren Charakterschwächen und vor allem vor ihrer Schuld.
Was war passiert?
Auf einer dienstlichen Geschäftsreise nimmt auf dem
Rückflug eine extrem dicke
Frau neben ihr Platz. Es ist ihre alte Schulfreundin Rebeca, welche
schon in der
Kindheit für ihr Anderssein von jedermann, zuweilen auf
grausamste Art und
Weise, gehänselt wurde. Verónica jedoch
fühlte sich zu ihr hingezogen ob
ihrer Belesenheit und gemeinsamen Vorliebe für Klassische
Musik. Doch diese
Freundschaft durfte nur im Verborgenen blühen. "Niemand
wusste, dass uns eine
gemeinsame Geschichte verband, dass wir uns heimlich trafen, immer bei
ihr."
Denn Verónica wollte nicht, dass man sie wegen dieses "Pummelchens
in
sackartigen Kleidern" aus der kindlichen Gemeinschaft
ausstößt.
Ein Bote aus der Vergangenheit
Auf den ersten Blick erscheint Verónica als die stabilere,
glücklichere der
beiden so grundverschiedenen Frauen. Rebeca - zwar reich und
erfolgreiche
Managerin - ist fresssüchtig, einsam und offenbart fast
schizophrene
Verhaltensweisen. Die andere, attraktiv, sportlich, verheiratet, wenn
auch nicht
sehr glücklich, hat einem wohlerzogenen Sohn, viele
Freundinnen und findet Erfüllung
in ihrem Beruf. Doch der Schein trügt. Auf
Verónica lastet die Schuld
eines Verrates an dieser Freundschaft. "Diese Frau namens
Rebeca war ein Bote
aus der Vergangenheit, ein grotesker, aber greifbarer Beweis
für all das, was
geschehen war und was ich fast vergessen hatte (...) Sie war eine
Überlebende
meiner Erinnerungen."
Verónica ist mit dieser neuerlichen, alten Bekanntschaft
überfordert und
verweigert ihr Erkennen. "Meine Feigheit ist eine Last, die
ich nach wie vor
auf den Schultern spüre (...) Lange habe ich versucht, das
alles zu verdrängen
(...) Rebecas Bild hatte nach und nach an Kontur verloren.
Die
Zufälle der
Erinnerungen hatten sie mir gelegentlich wieder ins
Gedächtnis
zurückgerufen,
aber ich hatte sie immer auf Abstand halten können. Bis sich
die Erinnerung an
sie als massiges Gespenst neben mir im Flugzeug materialisiert hatte."
Bei diesem einmaligen, zufälligen (?) Treffen soll es jedoch
nicht bleiben. Von
nun an scheint Rebeca Verónicas Leben zu
okkupieren. Sie ruft im Büro
an, schreibt ihr Mails, taucht wie aus dem Nichts bei Veranstaltungen
auf, denen
auch Verónica beiwohnt, und hat zu allem Übel noch
die Wohnung über ihrem
Liebhaber Patrick bezogen.
Albträume der Schuld
Obwohl durch dieses plötzliche Auftauchen Rebecas nach
fünfundzwanzig Jahren
auf einmal Unordnung über Verónicas Leben
hereingebrochen ist, haben die damit
einhergehenden Erinnerungen merkwürdigerweise auch etwas
Angenehmes für sie.
Früher flüchtete sie sich automatisch in einen
Tunnel, damit sie Menschen, die
nicht dem Normmaß der Gesellschaft entsprachen, nicht sehen
musste. Sie
verschanzte sich hinter ihrer vermeintlichen Würde, ihrer
Eleganz oder ihrer
Schönheit. Sie hatte geradezu gebettelt, dass alle sie
mögen, nur um sich dann
allein in ihr Zimmer zu flüchten.
Nun wird sie mit einem Mal an die Abgründigkeit der Augen
erinnert, in die sie
nicht hatte blicken wollen. Rebeca hat Verónica, im
Endeffekt auch schmerzhaft,
gezwungen, "mitten im Tunnel stehen zu bleiben und
zurückzublicken" und
ihre Albträume der Schuld Wirklichkeit werden zu lassen.
Wie einen bedrohlichen Schatten
senkt Cueto die zunehmenden,
schmerzhaften
Erinnerungen Verónicas bis zum schmählichen Verrat
an ihrer Freundin über
das Szenario. Schlussendlich gibt der Autor seiner Protagonistin jedoch
eine
Entwicklungschance, lässt das Ende aber offen. Das Schicksal
von Rebeca bleibt
vage.
Zunehmend schmerzhafte Erinnerungen
In einer äußerst raffinierten zirkularen
Erzählstruktur, (der Anfang des
Buches ist zugleich die homogene Fortsetzung des Endes und weist
bereits auf ein
"blutiges Vorkommnis" hin), schildert eine Frau rückblickend
ihre eigenen
Erlebnisse im Jahr 2005 in Perus Hauptstadt Lima, gepaart mit immer
dichter
werdenden Reminiszenzen ihrer Vergangenheit, die sie als Notizen und
Fragmente
in einem Tagebuch gesammelt und einer Freundin übergeben hat.
Diese wiederum lässt
sie einem Schriftsteller (Alonso Cueto) zukommen, und so liegen sie dem
Leser
jetzt vor.
Unprätentiös, spartanisch, karg und glasklar die
Sprache. Kurze prägnante Sätze
ohne Schnörkel und weitschweifende, ausladende Beschreibungen
sind das
Markenzeichen dieses 1954 in Lima geborenen Peruaners.
Die Handlung ist in jedem Detail luzid, diszipliniert die
Erzählhaltung. Cueto
betreibt Verknappung auf das Allernotwendigste, jedoch mit ungeheurer
Tiefenschärfe
und Aussagekraft: Analyse statt Bebilderung, Seziermesser statt
Tränendrüse.
Der Autor benötigt nur zwei, drei "Bleistiftstriche", um eine
Situation zu
umreißen und einzugrenzen. Matthias Strobel hat diesen
kennzeichnenden Stil
vorzüglich aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen.
Mit "Das Flüstern der Walfrau" wurde Cueto 2007 Finalist des
erstmalig
vergebenen "Premio Iberoamericano Planeta-Casa de América de
Narrativa".
Fazit
Eine alte Klassenkameradin, die die Zeit in eine Walfrau verwandelt
hatte,
taucht plötzlich auf und ermöglicht der
Ich-Erzählerin, das Korsett ihrer
Erinnerungen und der Vergangenheit zu sprengen und selbst wieder zum
Atmen zu
kommen und über sich nachzudenken.
Großartige Literatur aus Peru in kurzen, knappen
Sätzen.
(Heike Geilen; 02/2008)
Alonso
Cueto: "Das Flüstern der Walfrau"
(Originaltitel "El susurro de la mujer ballena")
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Berlin Verlag, 2008. 272 Seiten.
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