Philippe Claudel: "Der Junge, der in den Büchern verschwand und andere Geschichten"


Geschichten über Kinder für Erwachsene

Der 1962 in Lothringen geborene und dort auch lebende französische Schriftsteller hat der Literaturwelt in den letzten Jahren drei wunderbare Bücher geschenkt. Mit "Die grauen Seelen" gelang ihm der Durchbruch, und in "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" beschrieb Claudel in einer an Eric-Emmanuel Schmitt erinnernden Weise bewegend die Begegnung zweier sich vorher fremder Menschen und diskutierte mit einer sehr poetischen Sprache das Thema Schuld und Versöhnung.
Rowohlt legte dann 2006 den in Frankreich schon anno 2000 erschienenen kleinen Roman "An meine Tochter" nach, der aber leider kaum beachtet wurde.

Nun folgte im Kindler Verlag eine Sammlung von 17 ganz kleinen Geschichten für Kinder, die aber auch für Erwachsene gedacht sind. Ja, vielleicht sind sie sogar besonders für sie gedacht, jene großen Menschen, die sich doch manchmal so klein fühlen, immer schnell durch den Tag und ihr Leben hetzen, weil es ja so viel Wichtiges zu erledigen gibt, anstatt einfach zu leben und vielleicht auch einmal zu träumen ...
Claudels Geschichten entstanden für seine neunjährige Tochter, der er sie als Gute-Nacht-Geschichten erzählte.

Am besten gefällt mir noch jene, die dem kleinen Buch auch seinen Titel gab: "Der Junge, der in den Büchern verschwand". In dieser anrührenden Geschichte wird von einem Jungen erzählt, dem schmächtigen Lucas, Brillenträger und in der Schule von den Mitschülern als Schwächling verachtet. Auch bei seinen Eltern hat es Lucas schwer. Immer ziehen diese seinen großen Bruder vor. Er, Lucas, hingegen sei ein Ungeheuer, Nichtsnutz, Schwachkopf, Faulpelz, Taugenichts, ein Fehler und zudem nicht gerade schön.

Lucas, wie so viele andere ungeliebte und ungewollte Kinder, spürt das und weiß nicht, warum er so falsch ist. Doch nun berichtet Claudel etwas sehr Erstaunliches und für die zuhörenden Kinder Ermutigendes: Lucas, der doch über diesen Lebenszustand sehr traurig sein sollte, ist es nicht. Ganz im Gegenteil: "Lucas war der glücklichste Junge überhaupt." Das hängt mit seinem großen Geheimnis zusammen. Lucas kann nämlich in Büchern verschwinden. Aber nicht nur so, wie es alle Bücherwürmer können, Lucas kann in die Bücher regelrecht hineingehen und sich dort bewegen. Eines Tages fand er das heraus, als ihm seine Lehrerin in der Pause auf dem Schulhof ein Buch schenkte, nachdem ihn seine Mitschüler zum wiederholten Mal böse traktiert und danach weggejagt hatten. Die Lehrerin sagte, als sie ihm das Buch überreichte: "Hier, damit wirst du nie wieder einsam sein." Zunächst dachte Lucas, das Wunder seiner Verwandlung würde nur bei diesem einen Buch funktionieren, doch es klappte mit jedem weiteren, das er las.

Irgendwann blieb er verschwunden, in irgendeinem seiner zahllosen Bücher. Die Polizei kam, seine Eltern wurden beschuldigt, sie hätten ihn verschwinden lassen, weil die Polizei herausfand, dass sie und seine Geschwister Lucas so schlecht behandelt hatten. Und die Eltern mussten ins Gefängnis.
"Ich weiß, wo Lucas steckt. Da, wo er jetzt ist, ist er sehr glücklich. Er hat viele Freunde und keiner kann ihm mehr etwas Böses."

Nicht alle Geschichten in diesem kleinen Buch haben mir so gut gefallen wie diese. Zum Teil ist mir die Sprache zu flapsig, zu "mündlich". Alles in allem aber ein sehr empfehlenswertes Buch.

(Winfried Stanzick; 01/2008)


Philippe Claudel: "Der Junge, der in den Büchern verschwand und andere Geschichten"
(Originaltitel "Le monde sans les enfants")
Deutsch von Christiane Seiler.
Gebundene Ausgabe:
Kindler, 2008. 93 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2009.
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