Stefan Chwin: "Der goldene Pelikan"
Minuziöses
Protokoll eines Niedergangs
Der erfolgreiche Professor für Rechtsphilosophie an der
Universität Danzig, Jakub, stammt aus einem behüteten
Elternhaus der Nachkriegszeit und erlebt in seiner Villa in der
Nähe der Ostseeküste die wechselvolle Geschichte
seiner Stadt in der kollektiven Erinnerung an Eroberung und Vertreibung
der früheren Bewohner und den schleppenden Wiederaufbau. Auch
spätere Kapitel der polnischen Geschichte, die
Arbeiteraufstände in der Danziger Leninwerft,
Solidarność, der Überwindung des Kommunismus und der Einzug
der Marktwirtschaft ab den 1990er-Jahren, spiegeln sich im Leben des
Akademikers und im Handlungsbogen des Romans.
Jakub jedoch ist in allen durchlebten historischen Epochen begabt,
selbstbewusst, fesch und beliebt - bis sich eines Tages eine angehende
Studentin beschwert, dass sie zu Unrecht bei der
Aufnahmeprüfung durchgefallen sei; der Professor reagiert
hochmütig und lässt sie stehen. Wenig später
erfährt er zufällig, dass sie sich umgebracht habe.
Damit beginnt eine persönliche Krise, ein sozialer,
psychischer und körperlicher Verfall: Scheidung,
Arbeitsunfähigkeit, Delogierung, Alkoholismus, ...
Stefan Chwin, selbst habilitierter Literaturwissenschaftler an der
Universität Danzig, bettet Jakubs Lebensgeschichte in die
akademische Sprache und universitäre Gedankenwelt ein. Die
Querverbindungen zwischen Leben und Lehre des Rechtsprofessors sind
zahlreich und allgegenwärtig. Kann aber das theoretische
Wissen um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in
Philosophie und Theologie die persönliche Katastrophe
verhindern? Lernt Jakub wie einst
Siddhartha Gautama oder
Franz von Assisi aus der Begegnung mit Tod; Armut und
Krankheit? Jakub kehrt in seinem abschüssigen Lebensweg nicht
um, um schließlich wieder das Leben eines Rechtsprofessors
einzunehmen; die Akademia hat keine Selbstheilungskraft.
Die Lebensgeschichte Jakubs und seine lebensverändernden
Begegnungen lassen den Roman an Heiligenlegenden anklingen, an
Erzählungen über Läuterungen angesichts des
durchlebten Elends. Schon der Titel verweist doppelsinnig auf das teure
Schreibwerkzeug, mit dem der Akademiker die ungenügende Note
der Studentin im Prüfungsprotokoll vermerkt, und die
christliche Allegorie der Nächstenliebe. Als das Buch erstmals
2005 in deutscher Sprache erschien, konnten zahlreiche deutsche
Rezensenten mit dieser als zu katholisch gedeuteten
Interpretationslinie wenig anfangen - während das Buch in
Polen hochgelobt wurde.
Stefan Chwin bedient sich beider Traditionen. In der
religiösen Dichtung, die das Leben eines
Heiligen in Legenden bis in kleinste Details symbolisch
auflädt, um die positive Wirkung des Glaubens darzustellen,
hat nichts Platz, was nicht der Hagiografie dient. Jeder
Lebensabschnitt, jeder Tag - mag er auch noch so erfolg- und
bedeutungslos erscheinen - ist ein Hinweis auf Gottes Gnade im Alltag.
Der Autor kennt natürlich auch die wissenschaftliche
Unvoreingenommenheit, den distanzierenden Blick auf eine Biografie, die
nicht a priori gut oder böse ist, sondern erst mit der
Methodik einer wissenschaftlichen Disziplin analysiert werden muss, so
wie der Rechtsphilosoph Jakub jegliche Tat eines Menschen in
unterschiedlichen philosophischen Weltbildern verschieden bewerten
könnte.
Das Buch lebt aus diesen Widersprüchen zwischen Theologie und
akademischer Weltanschauung, zwischen der Verantwortung des Einzelnen
und dem historischen Wandel eines Landes - und aus den literarischen
Möglichkeiten, die Widersprüche zu
überwinden und mit Humor zu einem Ganzen zu fügen.
Die traurige und beklemmende Gewissheit, dass diese Diskrepanzen im
Alltag ungleich schwerer überwindbar sind, machen den Roman
"Der goldene Pelikan" zu lesenswerter Welt-Literatur.
(Wolfgang Moser; 02/2008)
Stefan
Chwin: "Der goldene Pelikan"
(Originaltitel "Złoty pelikan")
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2005. 304 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2008. 299 Seiten.
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Stefan
Chwin, am 11. Juni 1949 in
Gdánsk
geboren, veröffentlichte
mehrere Romane und Essaybände. Sein vielfach ausgezeichneter
Roman "Tod in
Danzig" (1997) wurde von der Kritik in Polen zum besten Roman des
Jahres
erklärt und mit dem "Andreas-Gryphius-Preis" ausgezeichnet:
"Tod in Danzig"
Die Deutschen verlassen 1945 das brennende Danzig. Kurze Zeit
später suchen
heimatvertriebene Polen in den verlassenen Wohnungen ein neues Zuhause.
In einem
Haus in der früheren Lessingstraße verflechten sich
die Geschichten der alten
und neuen Bewohner. Stefan Chwins suggestive Prosa und liebevolle
Beschreibung
einer legendären Stadt ist auch ein Roman über
Heimatlosigkeit und Verlust.
(Rowohlt)
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