Karlheinz Deschner: "Kriminalgeschichte des Christentums"

Band 9: Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts


Deschner: "Wer die Weltgeschichte nicht als Kriminalgeschichte schreibt, ist ihr Komplize."

Karlheinz Deschner, 1924 in Bamberg geboren, studierte von 1946 bis 1951 in Bamberg und Würzburg Neue deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie sowie Geschichte und promovierte 1951 mit einer Arbeit über "Lenaus Lyrik als Ausdruck metaphysischer Verzweiflung". Er ist ein unermüdlicher Autor zumeist kirchenkritischer Schriften, der in dieser Rolle mit Notwendigkeit vehemente Anhänger und mindestens ebenso vehemente Gegner produziert.

Wer sich nicht gerade studien- oder interessehalber der europäischen Geschichte oder Geistesgeschichte verschrieben hat, wird zwangsläufig eine Reihe von Bildern oder Metaphern mit sich herumtragen, die sich nicht mit der historischen Wahrheit - falls es so etwas überhaupt geben sollte - in Einklang bringen lassen. Die Spanne der Missweisungen reicht von wohlwollender Interpretation über Gleichgültigkeit bis zu blankem Zynismus, was bei vielen Schriften von Chronisten und Interpreten von teleologischen Welterklärungsmodellen anzutreffen ist. Der Autor hat sich dem Terrain verschrieben, wo Anspruch und Wirklichkeit so dauerhaft auseinanderzulaufen scheinen wie nirgends sonst: im Christentum und seiner Geschichte.

Der Kirche Wesen "(...) ist Heiligkeit, ihr Zweck die Heiligung", so der Benediktiner Leo von Rudloff. Nicht gerade wenige Bücher möchten heute noch diesen Eindruck hinterlassen, selbst namhafte Fachleute wie der Princeton-Historiker Peter Brown verfassten eine idyllisch anmutende "Entstehung des christlichen Europa", bei der man sich unweigerlich fragt, ob es sich um dasselbe Europe handelt, das von Kreuzzügen und konfessionell motivierten Kriegen verwüstet und von Scheiterhaufen ausgeleuchtet wurde. Und so schrieb Deschner gemäß dem Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars in der "Einleitung zum Gesamtwerk" im 1986 erschienenen ersten der auf zehn Bände ausgelegten Kriminalgeschichte des Christentums: "Ist es bei dem gigantischen Übergewicht all der verdummenden, täuschenden, lügenden Glorifikation nicht notwendig, auch das Gegenteil zu zeigen, zu lesen?"

Band 9 liegt nun vor und behandelt die Zeit von der Mitte des 16. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, in gewohntem Erscheinungsbild und gewohnter Rowohlt-Qualität.

Im ersten Kapitel zeigt Deschner auf gewohnt drastische Weise die Missionierung der Neuen Welt, die vorsichtigen Schätzungen nach weit über 50 Millionen Menschenleben forderte. Ob es sich hierbei um Kollateralschäden der Missionierung handelte oder ob sich die Spanier und Portugiesen von einem ahnungslosen Papst einen gigantischen Raubzug absegnen ließen, ist für den Autor zweitrangig, da diese Genozide im Namen der Kirche und mit dem Kreuz in der Hand erfolgten. Die Päpste "verschenkten" einen ganzen Kontinent an zwei christliche Königshäuser, die diesen seit Jahrtausenden bewohnten Kontinent dann auch prompt "entdeckten". Man muss sich vor Augen führen, dass sich hinter diesen mit Leichtigkeit präsentierten Vokabeln ein millionenfacher Mord und Totschlag verbirgt. Das gilt natürlich ebenso für das "Fallen" von Soldaten im Krieg: Soldaten fallen nicht, sie werden getötet. Solchen langlebigen Sprachregelungen stehen Humanisten heute mit Staunen bis Entsetzen gegenüber.

Es folgen breite Untersuchungen der Zeit der Reformation und Gegenreformation. Ignatius von Loyola beispielsweise, der Ordensgründer, wird hier porträtiert und mit einer typischen Deschner-Sentenz zusammengefasst: "Da jedoch Gott niemals selbst auftritt und regiert - das größte Klerusglück! - da er bekanntlich alles laufen lässt, wie's läuft, regiert der Klerus, soweit möglich, gern für ihn figuriert und funktioniert an seiner Statt die Priesterschaft und an ihrer Spitze: der O(rdenso)bere."

In zwei Exkursen erfährt der Leser Näheres über Otto Kardinal Truchsess von Waldburg und Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn, beide gleichermaßen fromm, rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedacht und unehrlich. Letzter, der die Hexenprozesse im Würzburger Raum einführte, die alchemische Kunst, aus Blut Gold zu machen, wird von christlichen Autoren als "zweifellos so hervorragender Humanist" geführt, wie Deschner schreibt.

Die in England unter christlichen Fahnen begangenen Untaten finden Berücksichtigung, aber auch deren Interpretationen, wie die des Päpste-Biografen Ludwig von Pastor über Maria I. Tudor, die unter dem Namen Bloody Mary berühmt wurde: "Marias erste Regierungshandlungen trugen den Stempel jener Milde, die sich überall offenbarte, wo sie dem eigenen Urteil und dem eigenen Herzen folgte."

Der Dreißigjährige Krieg wurde, wie Deschner es formuliert, durch publizistische Religionsstreitigkeiten "herausgetrommelt" und verheerte und entvölkerte realiter ganze Landstriche. Es ging, zumindest vordergründig, um Religion. Doch hier lässt der Autor durchblicken, dass sich hinter den monströsen Gewalttätigkeiten im Kontext religiöser Auseinandersetzungen oft nur gut kaschierte feudale Raubzüge verborgen haben könnten, die sich des Klerus zu Propagandazwecken nur bedienten - eine Meinung, die man in letzter Zeit häufiger lesen kann, auch und vielleicht nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Kreuzzügen des Mittelalters.

Dass der Autor Giordano Bruno unerwähnt und seinen Ankläger, den Heiligen und Kirchlehrer Roberto Bellarmin, nahezu ungeschoren davonkommen ließ, ist verwunderlich, insbesondere, wenn man des Autors Nähe zur Giordano Bruno-Stiftung berücksichtigt.

Fazit:
Deschner spaltet, polarisiert. Anhänger der christlichen Konfessionen werfen ihm Blasphemie und Geschichtsklitterung vor, zumindest aber tendenziöse und selektive Darstellung der historischen Zusammenhänge. Einzelne Wissenschaftler (mit christlichem Hintergrund?) bezweifeln seine Methodik und somit seine Seriosität. Vertreter der agnostischen und atheistischen Zunft hingegen feiern ihn als Aufklärer, als Voltaire des 20. Jahrhunderts, mit minutenlangen Ehrenbezeugungen bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte, wie anlässlich der Verleihung des "Deschner-Preises" an Richard Dawkins im November 2007 in der Frankfurter Universität.

Den Kritikern Deschners muss man zugestehen, dass seine Historiografie selektiv ist, sehr selektiv. Doch ebenso wie man das Flensburger Verkehrsregister nicht als ausschließliche Quelle zur Typisierung der deutschen Mobilitätsnation heranziehen darf, ist Deschners zentrales christliches Untatenregister kein Handbuch der europäischen Geschichte, aber vielleicht eine unverzichtbare Quelle zukünftiger Historiografen. Aber wenn einmal wieder ein großer oströmischer Kaiser überschwänglich gefeiert wird - wie jüngst Konstantin in Trier -, so kann es nicht schaden einmal nachzusehen, was Deschner über Konstantin zu sagen weiß; den Kuratoren der Ausstellungen hätte es jedenfalls nicht geschadet.

Karlheinz Deschner, der sich selbst als Agnostiker bezeichnet, hinterfragt das Christentum nicht theologisch, nicht philosophisch. Deschner hingegen vergleicht ihre Worte mit ihren Taten - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass wir einen zweifelhaften christlich-abendländischen Kulturchauvinismus pflegen, erkennt man spätestens dann, wenn man sich mit der byzantinischen oder der maurischen Geschichte auseinandersetzt. Unser Weltbild ist an einigen Stellen schlicht falsch. Man darf sich aber nicht wundern, wenn ein Ordinarius für mittelalterliche Philosophie an einer katholischen Universität ein Buch über mittelalterliche Philosophie im Stil eines Kompendiums verfasste, in dem ibn Rushd nur als Aristoteles-Übersetzer und Moses Maimonides gar nicht auftaucht.

Ausklingen soll die Besprechung mit zwei kurzen Zitaten aus dem Schlusskapitel:
"Man denke noch: eine riesige Unterschicht, auf deren krumm geschundenen, schief geschlagnen Rücken der ganze Feudalismus ruht; eine winzige Minorität, von Habsucht besessen, Herrschsucht, Raubgier, Dünkel, Leben meist in Saus und Braus, und diese kläglich machtlose Mehrheit daneben, darunter, die Masse, deklassiert, abhängig bis zum Grabesrand, von Generation zu Generation gedemütigt, verachtet, kaum anders denn fast unbesehen in den Dreck getreten - wie nie gewesen. (...) die Kirche stets auf der Seite der Unterdrücker."
"Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin und tausend weitere 'Heilige', sie alle verteidigen die Unfreiheit. (...) Überhaupt: wer schröpfte die Bürger, die Bauern mehr, wer bestand verbissener auf Frondienst, auf Leibeigenschaft als klerikale Feudalherren! Bischof und Abt, sie waren hartherziger häufig als der weltliche Adel, wie ja auch Luther brutaler mit den Bauern umsprang als selbst einige Fürsten; Ausnahmen immer und überall. Der Luther übrigens, der feststellte: 'Der Esel will Schläge haben und der Pöbel mit Gewalt regiert sein.'"

(Klaus Prinz; 06/2008)


Karlheinz Deschner: "Kriminalgeschichte des Christentums.
Band 9: Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts"

Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Reinbek, 2008. 454 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2010.
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