Wolfgang Büscher: "Asiatische Absencen"
Stille Sensationen
"Eine eigene Spannung erfasst uns, wenn wir reisen, wenn wir ins Entlegene dringen. Wir schauen und schauen, fahren, fahren und reden kaum mehr. Wir sehen in einer Weise, die das Darüberreden verstummen lässt, mit dem wir uns gewöhnlich behelfen. Reine Gegenwart. Was wir sonst waren, verblasst, wie in der Liebe, wie in einem Kampf. Wir streifen durch fremdes Terrain - äußerste Wachsamkeit. Hier gilt sie keinem Hinterhalt, sie gilt dem, was in diesem Moment im Augenwinkel erscheint oder am Horizont. Der Moment ist ein scheues Wild, der Horizont immer dort, wo wir nicht sind. Eine unstillbare Jagd, wir wissen es. Die Jagd ist nur Vorwand. Was zählt, ist die Stunde am Rande der Lichtung."
Diese Worte läuten Wolfgang Büschers letzte Erzählung in seinen "Asiatischen Absencen" ein. Sie treffen den Duktus des gesamten schmalen Büchleins korrekt - allerfeinste, literarisch hochwertige Reiseliteratur.
In England und den USA immer noch äußerst beliebt (z.B.
Bruce
Chatwin,
Patrick Leigh
Fermor), fristet dieses Genre im deutschsprachigen Raum eher ein Nischendasein. Derweil war die klassische Reiseliteratur in den späten 1920er-, frühen 1930er-Jahren
auch hierzulande sehr populär.
Journalist und Autor Wolfgang Büscher, der regelmäßig in der "ZEIT", in "GEO" und der "Welt" Reisereportagen veröffentlicht, will an diese Tradition anknüpfen. Bereits 2003 verarbeitete er persönliche Eindrücke eines dreimonatigen Fußmarsches von Berlin nach Moskau ("Berlin - Moskau: Eine Reise zu Fuß"), 2005 folgte "Deutschland, eine Reise".
Was seine Bücher so überaus lesenswert macht, sind die ganz subjektiven Empfindungen des Autors. Seine Stimmungen und Seelenlagen sind untrennbar mit den
auf ihn einstürmenden Eindrücken verbunden. Diese ganz persönlichen Erinnerungsbilder verwebt er in seine Geschichten und knüpft daraus einen kunstvollen
Teppich imaginierender Impressionen, die zwischen Verliebtheit und Befremden changieren. Büscher siedelt sein Erzählen an Autoren wie
Joseph Conrad oder
Rudyard Kipling an. Schriftstellern, die das Fremde in ihren Geschichten immer als das Fremde stehen ließen und nicht "so zu knutschen, so zu
umarmen, dass dieses Fremde in dieser Umarmung zerdrückt wird", konstatierte er in einem Interview.
Bleibt die Frage nach den Absencen. Was sind Absencen? Das Wort "Absence" ist französisch und bedeutet "Abwesenheit". Von Betroffenen - aber auch von Ärzten - wird der Ausdruck oft allgemein für das Symptom einer epileptischen Bewusstseinsstörung gebraucht. Wolfgang Büschers Reportagen haben jedoch keineswegs mit derartigen psychischen Abnormitäten zu tun, aber trotzdem ist der Titel ungemein treffend gewählt. Denn sowohl Büscher als auch der Leser wird diese Abwesendheitszustände oder Bewusstseinspausen erfahren. Man hält in seiner Bewegung inne, reagiert nicht auf die Umwelt, ist gefangen von seiner Prosa, seinen erzählten Erlebnissen.
Eine durchlässige Erlebnismembran
In dem vorliegenden Buch bewegt sich Büscher in einer ganz anderen, für uns Europäer fremden Welt - Asien.
Büscher nimmt den Leser mit durch ein drückend heißes
Indien. Er lauscht den fremden Klängen eines Sitar spielenden Maharadschas in dessen Palast, entwindet sich den Versuchen eines Mönches, ihn in einem Ashram zu bekehren und kuriert letztendlich in einem verlassenen ehemaligen Kolonialkrankenhaus ein plötzliches Fieber.
In Dubai wird er als Mitfahrender eines Öltankers eingeschifft, der ihn nach Singapur bringt. Fasziniert betrachtet er den schwarz-samtenen Umhang der Nacht, bestickt mit Tausenden Brillianten - den Sternen - und fügt sich allmählich dem gelasseneren Umgang mit der Zeit.
Büscher erlebt das stille Tokio ohne Dächer und philosophiert mit einem englischen Barbesitzer in Burma.
Von erschütternder Schönheit sind seine klebrig-heißen Erlebnisse und magischen Epiphanien der tropischen Fahrt von Singapur über
Thailand nach Hongkong und weiter zu den blutigen Reisfeldern Kambodschas, um letztendlich in Vietnam zu stranden. Unterwegs trifft er einen mysteriösen Mann, der ihn in seine Geheimnisse
aus der Zeit der Roten Khmer einweiht.
Die längste und beeindruckendste Erzählung hat er in Nepal angesiedelt, im Himalaja, in den Bergen nahe der tibetischen Grenze. Hier gerät Büscher in den Bann von Schamanen und erfährt tatsächlich persönliche Absencen, als er von ihnen in Trance getrommelt wird. Die stillen Sensationen, die Hochgebirgseinsamkeit Innerasiens, die Magie des Ortes wird eins zu eins an den Leser übertragen. Raum und Zeit scheinen zu verschwimmen. Büscher macht seine Erlebnismembran durchlässig und dadurch die Götter der Himalajabewohner dem Leser fühl- und erlebbar. Als überaus wohltuend erweist sich, dass er seine eigenen Befindlichkeiten stets in den Hintergrund stellt.
Auf den Leser wirken Büschners "Absencen" noch lange Zeit nach. Ernsthafte "Komplikationen" sind jedoch nicht zu erwarten. Eine medizinische Indikation des sich tatsächlich einstellenden Wahrnehmungsrisses ist nicht erforderlich, denn dieser hat während der Lektüre nur Auswirkungen auf die laute, allgegenwärtige Welt. Was kann es Besseres geben.
Fazit:
Gegenwart und Erinnerung, unbekannte Gerüche und tropische Hitze, alles verschmilzt in der fremden Ferne. Wolfgang Büschers "Asiatische Absencen" verfremden den eigenen Blick, um das Neue erfahren zu können.
Eine unbedingte Leseempfehlung für dieses aufschlussreiche, ehrliche und erzählerisch spannende Buch.
(Heike Geilen; 11/2008)
Wolfgang Büscher: "Asiatische Absencen"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Berlin, 2008. 159 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2010.
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