Reinhard Brandt: "Warum ändert sich alles?"
Reinhardt
Brandt war bis zum Jahr 2002 Ordinarius für Philosophie an der
Universität Marburg. Er ist ein ausgewiesener Kenner der
Philosophie Immanuel
Kants, hat darüber viel geforscht und
veröffentlicht. Auf seiner Internetseite kann man
diesbezüglich sehr Interessantes und auch eine ebenso lange
wie umfangreiche Liste seiner kürzeren und längeren
Veröffentlichungen von 1957 bis zum heutigen Tag bestaunen.
Brandt fühlt sich, wie er in seinem Lebenslauf
ausführt, der Philosophie der Aufklärung verpflichtet.
In seinem in der anspruchsvollen Edition Akzente
des Hanser Verlags erschienenen Buch spürt man das auf fast
jeder Seite. "Warum ändert sich alles?"
ist keine philosophische Monografie. Eher ist es eine Art
philosophisches Notizbuch,
worin der Autor notiert, was ihn beschäftigt. Er hat diese Gedanken durchaus in eine
Ordnung gebracht; z.B. beginnt er mit etlichen
Beobachtungen
zu der Frage der "Bildung".
Ganz besonders gut gefallen hat dem Rezensenten folgender Gedanke:
"Zur Bildung gehört die Vergegenwärtigung
des Nicht-da-Seienden, nicht des
Beliebigen,
sondern des Wichtigen. Man
muss bemerken, dass in den Schulen nicht mehr gesungen wird, und daraus
ergibt sich die Nachfrage: Warum? Das Nichtsingen lässt sich
nicht hören und nicht sehen oder riechen, und trotzdem findet
es statt und gehört zur Schule, der Nichtgesang. Wenn ein
Knopf an der Jacke fehlt, ein Zahn im Mund, ein Auge im Gesicht,
bemerken wir das Fehlende automatisch und zwanghaft; aber wenn in der
Stadt keine schwarzen Leichenwagen mehr am Tage fahren, wenn es keinem
Bürger mehr möglich ist, Trauerkleider zu tragen,
wenn auf dem Friedhof zunehmend die Familiengräber fehlen,
dann setzt das Bemerken dieser Nichtigkeiten mehr voraus. Zu dem, was
da ist, gehört der Gegenpart des Fehlenden, aber nur
für den, der sein Nichtsein bemerkt; wahrnehmen, sehen,
hören, schmecken, riechen und anfühlen kann man es
nicht. So leid es einem tut und so pathetisch es klingt: Das Nichtsein
gehört nicht zum Sein, aber zu unserem Dasein."
Deshalb, so Brandt, gehöre zur Bildung, wie er sie versteht,
der wache Verdacht, die komparatistischer Einbeziehung dessen, was
nicht da ist.
Ein faszinierender Blick auf die Wirklichkeit wird da beschrieben und
zur Einübung in den Alltag des Gebildeten empfohlen. Die
Urteilskraft des Einzelnen, die Brandt schulen will, ist für
eine Konzeption der Zivilgesellschaft unersetzlich. Das "begründete
eigene Meine" zu kultivieren, eine Art Widerstands- und
Unabhängigkeitsakt, ohne den die Wirklichkeit, die uns umgibt,
ins rundum Gleichgültige versinkt, oder aber zum Witz wird, "denn
der Witz urteilt und unterscheidet nicht, sondern bringt das Ungleiche
zusammen und führt bei der Paarung zum Gejohl der
Hörer und zur Verbesserung der Einschaltquoten."
Das Buch ist voll von solchen Beobachtungen und Einsichten und bringt
dem Leser eine Fülle von Erkenntnis sowie einen neuen,
unabhängigen und schon deshalb kritischen Blick auf eine Welt
und eine Gesellschaft, die nicht nur unter der Jugend droht, sich im
Feiern und Urlaub zu verlieren und aufzugeben.
Fazit:
Praktische Alltagsphilosophie mit Anleitung zum
selbstständigen Weiterdenken und Urteil; ein empfehlenswertes
Buch eines jung gebliebenen Geistes.
(Winfried Stanzick; 08/2008)
Reinhard
Brandt: "Warum ändert sich
alles?"
Hanser, 2008. 195 Seiten.
Buch
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Reinhard
Brandt wurde am 10.
April 1937 in Gladebrügge-Bad Segeberg geboren. Er studierte
Griechisch, Latein
und Philosophie
in Marburg, München und Paris. 1965 Promotion
über die
Aristotelische Urteilslehre, seit 1972 Professor für
Philosophie in Marburg.
Lehrtätigkeit an vielen Universitäten
(Simón Bólivar in Caracas,
Bloomington, Bielefeld, Padua und Venedig, Halle, Canberra,
München und Rom),
daneben zahlreiche Vorträge in Deutschland,
Südamerika, Spanien und Italien.
Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität
Frankfurt. 1982 Gründung
des Marburger Kant-Archivs zusammen mit Werner Stark, gemeinsame
Edition der
Kant-Forschungen und des Bandes XXV der Akademie-Ausgabe von Kants
Gesammelten
Schriften. Zahlreiche eigene Publikationen zur Philosophie der
Aufklärung, zur
Rechtsphilosophie und zur Kunstgeschichte und Ästhetik.
Lien zu Reinhard Brandts Netzpräsenz:
https://www.staff.uni-marburg.de/~brandt2/.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen - Vom Spiegel zum
Kunstbild"
Bilder: Spiegelbilder, Bilder in Wolken, ein magisches Zeichen, ein
Hologramm,
eine TV-Reportage, ein Piktogramm auf einem Verkehrsschild. Was ist es,
das
diese "Bilder" zu Bildern macht? Wie verläuft der sensitive
und
kognitive Prozess unserer
Wahrnehmung? Reinhardt Brandt hat eine
wunderbare Einführung
in die Wahrnehmung und in das Verständnis von Bildern
geschrieben. (Hanser)
Buch
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Leseprobe:
Ironie
Sokrates,
der Menschenbildner, hatte zwei Eigentümlichkeiten,
die
wichtige Merkpunkte für jede Erziehung sein sollten: Er
lachte oder lächelte, und er war ironisch. Beides faszinierte
die
Hörer. Beißende Ironie kann fehlplaziert und
tödlich
sein; was ist die hirnstimulierende, dem Lachen nahe, freundliche
Ironie?
Daß man etwas
anderes sagt, als man meint, ist es noch nicht,
denn das tun auch die Lügner und ein Pulk von anderen
ironielosen
Leuten: Alle, die zu müde sind, um ihre Meinung korrekt
auszudrücken, die unzähligen Zerstreuten und dann
die Heerschar von Sprechern, die mit der
Sprache einfach nicht
zurechtkommen. Vielleicht: Daß man sehr wohl denkt,
was man sagt, aber es dennoch nicht meint? Der Advokat sagt,
was er denkt, um den Prozeß zu gewinnen, aber er meint
nicht, was er denkt und sagt, weil er wie alle anderen
überzeugt
ist, daß sein Mandant der Mörder ist, ohne Ironie.
Worin
also liegt der bejahend-verneinende Winkelzug der Ironie?
Vielleicht so: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt etwas
anderes zu verstehen. Das ist richtig, aber noch zu weit, denn
auch James Bond sagt, er wolle von Venedig
nach Hongkong fliegen,
gibt aber mit diesen Worten zu verstehen, daß er
den Abend zu zweit in einer Gondel verbringen möchte. Besser
wäre: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt das Gegenteil
zu
erkennen. Die Hörer oder Leser benötigen nur die
Fähigkeit,
dasjenige ins mitgedachte Gegenteil zu verkehren, was
direkt gesagt wird. Die Anweisung dazu liegt in einem verschmitzten
Lächeln
der Prosa oder Poesie. Auch das reicht freilich
noch nicht, denn der Ironiker möchte, daß man seine
direkte
Rede schwebend im Modus des "vielleicht doch" versteht. Was
durch sein Gegenteil beleuchtet wird, ist von diesem insgeheim
vielleicht auch eingenommen. Ein parakonsistentes Ja
und Nein; nachweisbar ist meist weder das eine noch
das andere, manchmal beides, ein Spiel und ernst gemeinter Scherz.
Wann beginnen Kinder, die
Ironie in der Rede ihrer intelligenten Eltern zu begreifen? Wann reden
sie
selbst im Modus der Ironie?
Gebildet
Hört man in das Wort hinein, entdeckt man Folgendes: Wir
bestehen
aus vier Teilen, dem Erkennen, Fühlen und Wollen, und
das alles zusammengefaßt in einem Körper. Das ist
schon
die Meinung Homers. Die Abfolge: Zuerst erkennt man
etwas, das Erkannte erregt zweitens Lust oder Unlust, Attraktion
oder Repulsion, und darauf folgt drittens der Wille
zur entsprechenden körperlichen Handlung. Der gebildete
Mensch,
so folgern wir, hat aus diesen natürlichen Teilen
etwas Zusammenstimmendes gemacht, wozu es freilich der
Glücksumstände bedarf, deswegen die Bitte um die
Einhilfe
der Götter. Die Natur ist für die Bildung nicht
zuständig; schon
die Haustiere wie Hunde und Pferde benötigen eine
gute Dressur, um mit sich und den Menschen und der
Umwelt zurechtzukommen, um so mehr die Menschen selbst:
Ein gutes zeitgemäßes Erkenntnistraining, eine
musische Formung
der Gefühle, die Erziehung zum vernünftigen Umgang
mit den eigenen Entschlüssen und für den
Körper Handstand
und Rolle vorwärts und rückwärts.