Xavier-Marie Bonnot: "Der große Jäger"


Xavier-Marie Bonnots Marseiller Kriminalkommissar Michel de Palma kann man mit Fug und Recht als eine ganz besondere und sich doch sehr von den meisten anderen Serienkommissaren des deutschsprachigen Buchmarktes unterscheidende Polizistenpersönlichkeit willkommen heißen, so wie das der ähnlich unkonventionelle Münchner Autor Friedrich Ani in einer Art Vorabrezension dieses Buches getan hat.

Schon 25 Jahre ist dieser "Bulle" im Dienst, hat von seinem langjährigen Freund und Kollegen Jean-Louise Maistre den Spitznamen "Baron" erhalten und nennt seinen jüngeren Kollegen Maixime Vidal, der ihm auch des Öfteren mutigen Widerstand entgegensetzt, liebevoll "mein Sohn"; offenbar eine Reminiszenz des Autors an Georges Simenon, dessen Maigret seine Mitarbeiter "meine Kinder" nannte. Fünf Jahre war de Palma in Paris tätig, bevor er wieder nach Marseille zurückkehrte; in jene Stadt, die er liebt und die ihn in ihrer schnellen Veränderung zugleich abstößt.

Er hat eine bewegte Geschichte hinter sich, unter anderem hat er aus heiligem Zorn einen Mord begangen und ihn damals als Selbstmord vertuscht. De Palma quält das, und man spürt förmlich, dass dieser Mord noch einmal ein Thema werden wird in einem der sicher folgenden Romane von Bonnot. Seinen ursprünglichen Glauben hat er verloren, er hält auch nicht viel von Moral. Im Dienst wird er schon einmal tätlich und zwar auf eine Weise, die ihm bei den schwedischen oder deutschen Krimikollegen schon längst die Suspendierung eingebracht hätte. Er sieht die zunehmende Verrohung der Gesellschaft um ihn herum, trauert dem alten Marseille nach und ist doch bei aller extrem ungesunden Lebensführung so gar nicht der Typ, der ausbrennt. Er ist mit Leib und Seele Polizist und gibt alles, um einen Fall zu lösen. Dabei ist ihm allerdings kaum ein dubioser Handel zuviel. Der Zweck heiligt die Mittel - bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.

Seine Frau Marie hat ihn verlassen. Sie wird gewusst haben, warum. Es bleibt in diesem ersten Roman einer sicher langen Serie - "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen dem Baron von Marseille und allen, die es noch ernst meinen mit dem Kriminalroman", so bezeichnet es Friedrich Ani, - offen, ob Marie und Michel noch eine Zukunft haben.

Inhaltlich geht es in diesem überaus spannenden Buch um Menschen, die aus lauter zunächst wissenschaftlicher Begeisterung für die Urgeschichte der Menschen, deren Zeugnisse sie in einer Unterwasserhöhle vor Marseile gefunden haben, aus ihrer eigenen Welt und Geschichte herausfallen und zu Mördern werden, bzw. solchen, die den Mord dulden für ihre Zwecke.

Man erfährt viel über den Cro-Magnon-Menschen, seine künstlerischen Zeugnisse und begegnet Menschen, die vor lauter Begeisterung und wissenschaftlichem Egoismus von ihrem streng wissenschaftlichen Weg abgekommen und ins extrem Esoterische abgeglitten sind.
Eine schwierige und konfliktbesetzte Geschwisterbeziehung stellt sich als der Schlüssel für die Lösung heraus. Doch zuvor gibt es einiges an harter und guter Polizeiarbeit des Teams um Michel de Palma zu leisten, um herauszufinden, ob all die Morde, die in kurzer Zeit geschehen, etwas miteinander zu tun haben.
Es sind extreme Verstümmelungen bis hin zum Kannibalismus, mit denen die Polizisten und der Leser konfrontiert werden, und die sich erst ganz am Ende, das sehr dramatisch und fesselnd erzählt wird, auflösen.

Er setzte sich eine Weile auf den Rand eines Felsens.
Nichts kam. Nicht die geringste Spur wovon auch immer.
Nur die an Sicherheit grenzende Vermutung, dieselbe Szenerie zu sehen wie das Opfer. Ihn überkam die Gewissheit, dass der Mörder von Christine Autran die Leiche absichtlich hier deponiert hatte. Eine Art Stelldichein, er wollte, dass man sie fand.
"Die Leiche ist erst einen Monat später gefunden worden. Warum nicht früher? Es gibt nicht gerade wenig Spaziergänger, vor allem am Wochenende! Sie war halb zerfressen, sie hat also lange im Wasser gelegen."
Irgend etwas stimmte nicht.
"Weiter unten, in mehr als dreißig Meter Tiefe, befindet sich die Le-Guen-Höhle. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Höhle. Das Opfer und sein Mörder kennen sich. Gut ... Vielleicht sogar sehr gut. Sie kennen die Calanques wie ihre Westentasche. Warum?"
"Es war der Anfang einer Hypothese. Trotzdem fühlte er sich machtlos. Er mochte das nicht. Die Calanque lehrte ihn nicht viel. Er wusste, dass er eine einzige und immer gleiche Frage beantworten musste: Weshalb war Christine Autran hergekommen?
(...)
Aus dem Roman.

Warten wir mit großer Spannung auf das nächste Buch mit dem "Baron von  Marseille", der Schöpfung eines Autors, der seine Stadt liebt und an ihr leidet - wie sein Protagonist.

(Winfried Stanzick; 02/2008)


Xavier-Marie Bonnot: "Der große Jäger"
(Originaltitel "La première empreinte")
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
Zsolnay, 2008. 461 Seiten.
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Xavier-Marie Bonnot wurde 1962 in Marseille geboren und lebt in Paris. Er studierte Literatur und Geschichte und arbeitet seit 1994 als Dokumentarfilmer und Kameramann, u. a. für "Arte". "Der große Jäger" ist sein erster Kriminalroman, für den er 2002 mit dem französischen "RomPol-Preis" der Leser ausgezeichnet wurde.

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