Manfred Alexander: "Kleine Geschichte der böhmischen Länder"
Böhmische
Dörfer?
"Die Geschichte der böhmischen
Länder ist zugleich europäische
Geschichte, denn in ihr finden sich alle Probleme, die dem Leser aus
der 'deutschen
Geschichte' vertraut sein mögen." (Seite
17)
Als "böhmisches Dorf" bezeichnet man zuweilen etwas
Unbekanntes,
wenig Vertrautes, ein Gebiet, in dem man sich nicht auskennt. Der
Ausdruck mag
aus Zeiten stammen, als die böhmischen Dörfer zwar
unbekannt waren, aber
durchaus erreichbar, vielleicht im Sudetengebiet. Wäre
nämlich das Unbekannte
überhaupt nicht erreichbar, würde man es nicht gerade
nach jenen Nachbarn
benennen, deren Siedlungsgebiet tief in die deutschsprachigen
Länder
hereinragt. "Böhmische Dörfer" sind also unentdeckte
und
gleichzeitig auch entdeckbare Nachbarn!
Heute liegt es vermutlich an den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, an
der unsäglichen
Teilung Europas in eine Ost- und eine Westhälfte, dass die
böhmischen Länder,
die heutige Tschechische Republik, für viele nicht oder nicht
mehr - vielleicht
auch noch nicht - zu den vertrauten Nachbarn diesseits der bis heute
geistig
aktiven Trennlinie zählt, sondern zu einer Kategorie
entfernterer, tatsächlich
im Osten liegender europäischer Länder, wie z.B.
Bulgarien oder Litauen.
Manfred Alexander, emeritierter Professor für
ost(!)europäische Geschichte in
Köln, tut sein Bestes, um die böhmischen Nachbarn
für die deutschsprachige
Leserschaft wieder in jenes gemeinsame historische Boot zu holen, aus
dem sie
eigentlich nie ausstiegen. Sein nüchterner, unaufgeregter Stil
ist angemessen
angesichts der Schwierigkeiten in der deutsch-tschechischen Geschichte,
sei es
die Schlacht am Weißen Berg, die die Herrschaft der
Habsburger für weitere
drei Jahrhunderte zementierte, der Streit um die Insignien der
Universität Prag
in den 1920er- und 30er-Jahren oder die Vertreibung der
deutschsprachigen Bevölkerung
nach 1945. Besonders die politischen "Spielregeln", die zur Diktatur
der kommunistischen Partei nach 1948 und zur so genannten
Normalisierung nach
1968 führen, sind in ihrer klaren Sprache interessant zu lesen.
Zuweilen erinnert der Text aber auch an ein Vorlesungsskriptum, das
erst durch
die rhetorische Gabe des Vortragenden zum Leben erweckt werden muss:
abgesehen
von einem zusammenfassenden Epochenüberblick und kurzen
Zeittafeln mit den
wichtigsten Jahreszahlen an den Kapitelanfängen ist der
Buchtext nahezu
unstrukturiert. Es fehlen Zwischenüberschriften,
Hintergrundartikel (z.B. zur
Entstehung des tschechischen Nationalismus im 19. Jahrhundert),
Schlüsselbiografien
(z.B. Wallenstein, Masaryk); auch drei Landkarten, die die
Veränderung der
Landesgrenzen von Böhmen und Mähren im 13., im 16.
und im 20. Jahrhundert
zeigen, bieten nur geringen Mehrwert gegenüber über
600 Seiten Fließtext. Das
(Wieder-)Auffinden von Informationen funktioniert nur über ein
Personregister,
es gibt keine Orts- oder Sachregister.
In dieser recht geringen Strukturiertheit setzt der Autor bei den
Lesern viel an
Ausdauer, aber auch an Vorkenntnissen voraus. Wer diese beiden
Vorbedingungen
mitbringt, wird in Manfred Alexanders Buch ein gediegenes und
verlässliches
Handbuch zur tschechischen Geschichte finden.
(Wolfgang Moser; 05/2008)
Manfred
Alexander: "Kleine Geschichte der
böhmischen Länder"
Reclam-Verlag, 2008. 611 Seiten.
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Literaturtipp:
Karel Poláček:
"Die Bezirksstadt"
zur Rezension
...
Humoristisches Kleinod über eine böhmische Kleinstadt im letzten
Friedensjahr der Monarchie