Kjetil Bjørnstad: "Oda"
Sehnsucht
und Abhängigkeit
Eine Frau auf dem Weg zur Freiheit, eine Frau für die neue Zeit
Ketil Bjørnstad - dieser Name steht nicht nur in Norwegen,
sondern auch über die Landesgrenzen seiner Heimat hinaus als
Pseudonym für eine einzigartige künstlerische
Karriere. Denn neben seiner erfolgreichen Musikerlaufbahn als Pianist
und Komponist macht sich der 1952 in Oslo geborene Bjørnstad
auch noch einen exzellenten Namen als Schriftsteller.
Über dreißig von ihm geschriebene Bücher
wurden bislang veröffentlicht: vor allem Romane (u. a.
"Vindings Spiel", "Villa Europa"), aber auch Sammelbände mit
Gedichten oder Essays, die teilweise in diverse Sprachen
übersetzt wurden. Zu seinen bekanntesten literarischen Werken
gehören zweifellos die beiden Romanbiografien des Komponisten
Edvard Grieg (1843-1907) und des Malers Edvard Munch (1863-1944).
Bereits 1983 erschien in Norwegen eine andere Romanbiografie mit dem
Titel "ODA!", die anno 2008 erstmals in deutscher Übersetzung
vorliegt. Die Malerei
ist gleichfalls begleitendes Thema, und Edvard
Munch findet ebenso "Erwähnung", doch zentraler "Gegenstand"
seines psychologisch vielschichtig strukturierten Werks ist eine
Künstlerin, die sich als "vraie princesse de la
bohème" - als "Prinzessin der Bohème" -
genauso wie als anerkannte Malerin einen Namen machen sollte: Oda Krogh.
Ottilia ("Oda") Lasson (1860-1935) ist die zweitälteste
Tochter des norwegischen Regierungsrats Christian Lasson und dessen
Ehefrau Alexandra. Gemeinsam mit neun Geschwistern wächst sie
in einem konservativen Elternhaus auf. Ihr Vater vertritt die Meinung,
dass ein Stimmrecht für Frauen unweigerlich zu einer
Katastrophe für die Demokratie führen würde.
Ihre Mutter, Enkelin einer russischen Prinzessin,
äußert sich nicht zu solchen Themen, denn einer Frau
steht keine politische Meinung zu.
Kristiania-Bohème
Doch Oda verlangt bereits frühzeitig und ungeniert die
gleichen Rechte wie zum Beispiel ihr Bruder: Klavierstunden,
Konzertbesuche. Allerdings scheint der konservative Grundtenor des
Elternhauses auch ihr Leben vorzuzeichnen. Nach dem frühen Tod
ihrer Mutter heiratet sie den Unternehmer Jørgen Engelhardt,
von dem sie zwei Kinder bekommt.
Als jedoch ihr innig geliebter Bruder stirbt, den sie die letzten
Wochen aufopferungsvoll pflegte, formt dies ihr weiteres Leben
nachhaltig ("Pers Todeskampf wurde zum Maßstab
für alles, was sie später empfinden sollte").
Hinzu kommen die sich ändernden politischen Zeiten der 80er
Jahre des 19. Jahrhunderts - eine Zeit der "schrecklichen
Freidenkerei und der Frauenemanzipation",
wie ihre Schwester
Nastinka feststellt.
Oda wird Schülerin und später Geliebte des bekannten
Malers Christian Krogh und reicht die Scheidung von Engelhardt ein. Die
amtliche Trennung soll sich jedoch noch lange und schmerzhaft hinziehen.
Zu allem Unglück wird sie von Krogh schwanger. Als der
offensichtliche Umstand nicht mehr kaschiert werden kann,
fährt sie mit ihm heimlich - da noch mit Jørgen
Engelhardt verheiratet - nach Belgien. Das dort geborene kleine
Mädchen Nana lassen sie bei Pflegeeltern zurück: ein
weiteres tief prägendes Ereignis für die empfindsame
Künstlerin. Trotz ihres äußerlichen
Selbstbewusstseins und Stolzes überwiegt bei der
bürgerlich-konservativ erzogenen Frau die Angst vor der
Schande.
Oda versucht den Verlust zu kompensieren. Die Gruppe der
Kristiania-Bohème, (Kristiania war zu dieser Zeit Hauptstadt
von Norwegen), welche die bürgerliche Gesellschaft und ihre
Moral ablehnt sowie sexuelle Freiheit und soziale Gleichheit propagiert
und zu der viele Künstler (u. a. Edvard Munch) und
Intellektuelle zählen, wird ihr zweites Zuhause und Oda
bekennendes und aktives Mitglied. Mit dem führenden Kopf, dem
Schriftsteller Hans Jaeger, beginnt sie eine obsessive
Liebesaffäre. In diese, von ungesunder Abhängigkeit
geprägte Dreiecksbeziehung stößt
gleichfalls Christian Krogh.
Inneres Gefühlsinferno
Schonungsloses Zeugnis gibt Ketil Bjørnstad, indem er den
Briefwechsel Odas mit Jaeger in sein Romankonstrukt einflicht. Die
Originalbriefe sowie die von Zeit zu Zeit gewählte Ich-Form
brechen die auktoriale Erzählform auf. Diese Wechsel spiegeln
großartig die tiefe innere Zerrissenheit der jungen Frau.
Übermäßiger Alkoholgenuss,
Depressionen und
unerträgliche Stimmungsschwankungen sind fortan periodische
Begleiter. Ihre Beziehung zu Christian Krogh bekommt einen tiefen Riss
und sollte nicht mehr gekittet werden können. Trotzdem
heiratet sie ihn, mehr aus Angst, dass sich der Maler etwas antun
könnte und aufgrund moralisch-gesellschaftlicher Aspekte. Die
Beiden bekommen noch einen gemeinsamen Sohn - Per - und holen im
Frühling 1890 die inzwischen sechsjährige Tochter
Nana aus Belgien zurück.
Doch Oda wird Zeit ihres Lebens keine innere Ruhe und Einkehr finden.
Aus ihrer permanent gefühlten Abhängigkeit, zuerst
von ihrer Mutter, dann von ihrem Vater und ihrem Bruder Per,
später von Krogh, kann sie sich nie lösen. "Zu
viele Menschen haben Macht über mich gehabt, (...) und haben
gewusst, sie zu missbrauchen." Ihrem inneren
Gefühlsinferno war sie nicht gewachsen. "Sie wusste,
dass es in ihrem Leben nur zwei Möglichkeiten gab: zu fliehen
oder sich selbst in die Augen zu schauen." Oda wählt
die Flucht: in verschiedene Orte Europas (Dänemark, Belgien,
Berlin, Paris) und in die Arme von anderen Männern (die
Schriftsteller Jappe Nilssen, Sigbjørn Obstfelder, Gunnar
Heiberg).
In vielen Romanen dieser Männer wird sie zentrales Hauptthema
sein, aber eine eigene, persönliche Identität wird
sie sich - außer in ihren Bildern - nie schaffen
können.
Die Worte ihrer Schwester Soffi bringen es auf den Punkt: "Du
bist ein Kind, du hast große, kluge Kinderaugen, und
für ein Kind ist es unerträglich, nicht suchen, nicht
finden zu können. Ich weiß, du hast gefunden, in
kurzen Augenblicken, nicht nur in einem, aber ein bisschen in vielen."
Erst spät stellt Oda Krogh fest, dass es nicht
Unabhängigkeit war, was sie suchte, sondern Bindung. 1935
stirbt diese Frau, zwar berühmt, aber einsam.
Großartiges Frauenporträt und wunderbares
Zeitzeugnis
Ketil Bjørnstads "Oda" ist neben einem großartigen
Frauenporträt auch ein wunderbares Zeitzeugnis des ausgehenden
19. Jahrhunderts in Norwegen und Europa und bietet großartige
Einblicke in die Künstlerszene der damaligen Zeit sowie der
anti-bürgerlichen Bohème.
Gefühlvoll und klug, manchmal sperrig, aber
größtenteils flüssig zu lesen, zeichnet der
Autor das Bild dieser zerrissenen Frau und Künstlerin, die
eigentlich nie richtig erwachsen wurde, ihr ewiges Brausen der
Gefühle, die ihren Weg zeitlebens bestimmen sollten.
Den Musiker merkt man Bjørnstad in dieser
feinfühligen und imposanten Romanbiografie deutlich an. Er
spielt eine wunderbare Klavierpartitur, setzt manchmal kurze
Sätze und Wörter als Töne und Akkorde, um
dann wieder lange Melodien, die sich über mehrere
Sätze erstrecken, einzuflechten. Aber gerade diese
arhythmische Komposition verleiht dem Buch seinen besonderen Reiz. Auch
bleibt jedes Nebenthema klar und einfach sichtbar, der rote Lebensfaden
der zerrissenen Künstlerin ist allseits präsent.
Großen Anteil am Gelingen hat gleichfalls die
Übersetzung aus dem Norwegischen von Lothar Schneider, der den
musischen Ton Bjørnstads flüssig ins Deutsche
übertragen hat.
Wenn der Autor seine Protagonistin schlussendlich sagen lässt:
Ich habe dir eine Geschichte über das Leben
erzählt, nicht so, dass es seine Struktur in einem Kunstwerk
findet, sondern so, dass es unstrukturiert an uns allen seine Spuren
hinterlässt und vielleicht am meisten bei denen, die sich
weigern, Zuflucht in etwas zu suchen, das sie nicht sind", so
treffen diese Worte zu Hundert Prozent auch diese Romanbiografie.
Fazit:
Ketil Bjørnstads "Oda" ist das großartige und
melodische Aufspüren der Geschichte eines gelebten Lebens, die
Rekonstruktion einer Selbstbiografie, die nicht vollendet wurde.
Eine Geschichte über den Platz der Liebe in unserem Leben,
über Befreiung, Machtkampf und Verstellung sowie über
die Kunst, wahrhaftig zu leben.
(Heike Geilen; 03/2008)
Kjetil
Bjørnstad: "Oda"
(Originaltitel "Oda!")
Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel, 2008. 429 Seiten.
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