Michael Zeidler: "Wie Lukas Charles Darwin aus der Klemme half"
Eine etwas andere Geschichte der modernen Biologie
"Es ist eine Helix!"
Michael Zeidler zeigt in "Wie Lukas Charles Darwin aus der Klemme
half", dass Genetik spannend wie ein Krimi sein kann
"Der ganzen Gengeschichte wird viel zu viel Bedeutung beigemessen",
meint Peter Steiner, ein robuster Tischlermeister, der der Biologie so gar
nichts Rechtes abgewinnen kann. Ganz anders sein Sohn Lukas, der Held in Michael
Zeidlers Buch. Er weiß locker und souverän mit Feedbackregulation bei
Operons, dominant-rezessiven Erbgängen, Desoxyribonukleinsäure, X-Chromosomen
im Karyogramm und komplementären Replikationen umzugehen.
Einem Nichtbiologen schwirrt wahrscheinlich bei all diesen Begriffen der Kopf.
Doch Zellaufbau sowie Vererbungslehre und Genetik gehören zum Stundenplan einer
7. bzw. 9./10. Klasse. Allerdings wird die überaus spannende Thematik nicht
selten trocken und farblos präsentiert. Auch Zeidlers Held Lukas kämpft gegen
die einschläfernde Unterrichtsführung seiner ungeliebten Biologielehrerin Frau
Habicht an und verliert. Er driftet mit konstanter Regelmäßigkeit in das Reich
seiner Träume ab.
Aber Michael Zeidlers "etwas andere Geschichte der modernen
Biologie" gibt dem Ganzen eine Wendung. Der promovierte Biologe ist im
Gegensatz zu Frau Habicht Erzähler aus Leidenschaft. "Wie Lukas Charles
Darwin aus der Klemme half" erweist sich als lehrreiche und ausgemacht
interessante Lektüre. Immer wieder flicht der Autor spannende Geschichten ein,
die den angeblich trockenen Stoff auflockern und für Entspannung sorgen. Er
trifft damit genau den Ton, der Kinder ab zwölf Jahren in Bann ziehen wird.
So eignet sich Lukas trotz seiner Tagträumerei gerade in dieser Traumwelt
tiefgreifendes Wissen an und hat vor allem Interesse daran, immer tiefer in die
Materie vorzustoßen. Wie das? Ganz einfach, er "beamt" sich
direkt an den Ort des Geschehens. Mit Hilfe des "Genetikschinkens",
den er im Haus seines verstorbenen Großvaters findet und der wie ein Zeittor
funktioniert, reist er in die mitunter abenteuerlich aussehenden Versuchslabore
namhafter Forscher und wird von deren Entdeckerfieber mitgerissen. Sein imaginärer
Großvater, einst ein angesehener Universitätsprofessor der Biologie, begleitet
ihn meistens dabei.
Und so kommt es, dass der junge Bursche ganz nah an großen wissenschaftlichen
Entdeckungen dran ist. Er startet bei Lamarck - dem Pionier der
Evolutionstheorie -, fährt mit Darwin auf der "Beagle" zum Galapagos-Archipel
und vertritt ihn gar in der ehrwürdigen Londoner Royal Society, um mit
dessen Widersacher Mivart ein Streitgespräch auszufechten (daher der
Buchtitel).
Lukas entdeckt gemeinsam mit Gregor Mendel im Augustinerkloster Brünn die Vererbungsregeln, findet mit Thomas Hunt Morgan "im Bananenmatsch"
die erste weißäugige Mutation unter rotäugigen Fruchtfliegen, oder erlebt die
Geburt der Molekularbiologie, als George Wells Beadle erkennt, dass Gene
biochemische Vorgänge innerhalb von Zellen regulieren. Zeidlers Protagonist
isoliert mit Friedrich Miescher die erste DNS aus menschlichem Eiter und
betrachtet mit Rosalind Franklin deren Röntgenbeugungsdiagramm der DNS, das
wesentlich zur Aufklärung von deren Doppelhelixstruktur beitrug.
Immer weiter bewegt sich Lukas voran, beginnend vom Anfang des 19. bis weit ins
20. Jahrhundert hinein, und immer komplizierter werden die wissenschaftlichen
Vorgehensweisen, die formale Logik und die molekularbiologischen Terminologien,
die auf ihn und den Leser einstürmen. Um die anspruchsvoller werdenden
Wissenschaftspassagen zu verarbeiten, ist mit zunehmender Seitenzahl eine erhöhte
Lesekonzentration und Aufmerksamkeit zwingend erforderlich. Doch die kontemporäre
belletristische Rahmenhandlung lockert immer wieder auf. Gekonnt eingeflochtene
Wiederholungen, "Nachdenken und Drüber-Reden" nennt es Lukas'
Großvater, festigen das Gelesene. Schlussendlich trifft Lukas auf Jacques Monod
und entwickelt zusammen mit ihm das Operon-Modell. Dieses erklärt, wie die
Aktivität von Genen
an- oder abgeschaltet werden kann (Regulation der Genaktivität).
Am Ende erfährt Lukas auch etwas über seine eigene Krankheit, die Hämophilie:
"Ich weiß, dass ich Bluter bin, und ich weiß, dass mir ein
Gerinnungsfaktor fehlt [...]. Aber ich verstehe nicht, wo in mir der Fehler
liegt und warum es keine
Medizin gegen diese Erbkrankheit gibt", fragt
er sich zu Beginn des Buches. Die Frage beantwortet ihm auf den letzten Seiten
noch einmal sein Großvater, bevor er endgültig aus seinem Leben verschwindet: "In
deinem Fall ist das Gen namens F8 zerstört, und zwar durch eine Inversion. Das
bedeutet, ein Teil des Gens liegt verkehrt herum vor, und dadurch kann das
dazugehörige Protein, der Blutgerinnungsfaktor VIII, nicht hergestellt werden.
[...] ich hoffe, ich habe dir die Augen geöffnet, wie wundervoll die Biologie
sein kann, wie kompliziert und doch gleichzeitig auch einfach."
Michael Zeidlers Buch führt Kinder und Eltern auf bemerkenswerte Weise an die
Grundlagen der Evolutionslehre
bis zu den Tiefen der Genetik heran. Der Autor deckt beinahe den kompletten
Bereich der Biologie der Sekundarstufe II ab. Und so mancher Erwachsene, der nur
noch vage Erinnerungen an seine Schulbiologie hat, wird am Ende erstaunt
feststellen, wie spannend die Lehre vom Leben tatsächlich sein kann, denn
Zeidler vermittelt den durchaus komplizierten Stoff unterhaltsam, leicht verständlich,
aber trotzdem fundiert und gut recherchiert. Ein Glossar, ein Personenregister
und eine chronologische Zeittafel runden den gelungenen Sachroman ab.
Einziges Manko sind die fehlenden Illustrationen. Diese hätten der schwierigen
Thematik durchaus gut zu Gesicht gestanden und sicherlich zum noch besseren
Vorstellungsvermögen und Verständnis beigetragen. Eine Visualisierung wäre
das sogenannte I-Tüpfelchen des ansonsten großartigen Buches gewesen, dem man
den Eingang in so manches Biologieklassenzimmer wünschen würde.
(Heike Geilen; 11/2008)
Michael Zeidler: "Wie Lukas Charles
Darwin aus der Klemme half.
Eine etwas andere Geschichte der modernen Biologie"
Verlag Herder, 2008. 352 Seiten.
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