Herwig Knaus, Wilhelm Sinkovicz: "Alban Berg"
Zeitumstände - Lebenslinien
Leidenschaftlich und penibel
Für die meisten ist auch heute noch die Zwölftonmusik der Inbegriff von
unmelodischer, unverständlicher, unerträglich schräger Musik. Kaum eine
andere musikalische Stilrichtung ist so kontrovers. Doch unbestritten
erobert sich diese Musik mittlerweile über die Hintertür einen Platz. Vor
allem in Filmmusiken wird ihr Unbegreifbares gern als Mittel benutzt, um subtil
ins menschliche Bewusstsein einzudringen.
Vordringlich drei Namen haben sich um diese musikalische Moderne einen Namen
gemacht, sie zum Leben erweckt. Allen voran der österreichische Komponist
Arnold Schönberg (1874-1951) und seine Schüler Anton Webern (1883-1945) und
Alban Berg (1885-1935), die als Begründer der sogenannten "Zweiten Wiener
Schule" und für die nicht immer den besten Ruf genießende Tonkunst
stehen.
Alban Berg selbst verstand sich als "natürlicher Fortsetzer richtig
verstandener guter, alter Tradition". Ihn zeichnete zusätzlich aus,
dass er einerseits streng im Zwölftonsystem arbeitete, andererseits Wärme und
Gefühle vermittelte. Sein "Wozzeck" gilt als Markstein in der
Geschichte der
Oper, ebenso seine unvollendete Oper "Lulu".
Die beiden Musikwissenschaftler Herwig Knaus uns Wilhelm Sinkovicz haben sich
diesem Mann genähert. Aus Briefentwürfen, Notizen auf Schmierzetteln, alten
Kalenderblättern, halb zerrissenen Reklamesendungen oder gebrauchten
Briefkuverts - Tausenden, sehr eigenwilligen und bislang ungehobenen
handschriftlichen und getippten Lebensspuren - hievten die beiden Autoren in mühsamer
Kleinarbeit das Leben des Wiener Komponisten an die Oberfläche.
Gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Zeitzeugnis
Da fanden sich Korrespondenzentwürfe an seinen verehrten Lehrer Arnold Schönberg,
an den weniger geschätzten Richard Strauss oder an die befreundete
Alma
Mahler. Aber auch solch private Aufzeichnungen wie der Schriftverkehr mit
einer Versicherung nach einem Autounfall, Einkaufslisten oder einfach nur die
hingekritzelten Bummerl- oder Schnapspunkte eines Kartenspieles zwischen Alban
Berg und Peter Altenberg. Vor allem die Originaltexte machen das Buch ungemein
lebendig.
Aus diesem Konvolut entstand das vorliegende Buch, das - darauf legen die beiden
Autoren in ihrem Vorwort Wert -, sich jedoch nicht als Künstler-Biografie
versteht. Wie es der Untertitel verrät, wollen Knaus und Sinkovicz anhand
bisher nicht erschlossener Quellen die Zeit- und Lebensumstände dieses
gespaltenen, ewig kränkelnden Komponisten beleuchten. Gerade durch diese ganz
intimen Einblicke gewähren sie einen großartigen Zugang zu Alban Bergs Persönlichkeit
und seinem Künstlertum. Gleichzeitig zeichnen sie ein wunderbares
gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Bild Österreichs während
der untergehenden k.u.k.-Monarchie und der unruhigen Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen.
Viele bisher weitgehend unbekannte Bilddokumente ergänzen anschaulich die
Briefe und Briefentwürfe, die immer wieder eingeflochten und bestimmender
Bestandteil dieses Werks sind. Letztendlich werden authentische Charakterbilder
aller "handelnden Personen" skizziert, die neben Alban Berg auch
dessen Familie und die Familie seiner Frau, Helene Nahowski - Spross der
geheimen Beziehung des
Kaisers Franz Joseph mit Anna Nahowski - beleuchten.
Die große Nähe Bergs zu seiner Mutter Johanna und zu seiner Schwester
Samaragda ist im Buch deutlich zu spüren. Die beiden Autoren haben diesen
Frauen den gebührenden Platz gewidmet. "Ebenso den finanziellen
Belangen", wie Knaur und Sinkovicz bemerken, "die sich wie ein
roter Faden durch Bergs persönliche Aufzeichnungen ziehen und die realistische
Schlaglichter auf die Lebensumstände werfen."
Chronologische Reihenfolge
Auf subjektive Auslegungen oder Kommentare haben die Autoren weitgehend
verzichtet, und wenn doch, verwenden sie den Konjunktiv. Zugunsten einer
durchweg angenehm flüssigen Lesbarkeit wurde bei den durch Primärquellen
belegten, wissenschaftlich fundierten Aussagen auf eine Unmenge von Fußnoten
verzichtet.
Beginnend im Jahr 1900 - wenige Wochen vor dem Tod des Vaters von Alban Berg -
durchlebt der Leser in chronologischer Reihenfolge, wie aus dem einstmals
literarisch interessierten und begabten Jungen aus gutbürgerlichem Haus ein über
die Grenzen Österreichs hinweg beachteter Komponist wurde. Dabei zeigen Knaur
und Sinkovicz ungeschminkt auch Bergs Schwierigkeiten mit der eigenen Familie,
die wirtschaftlichen Nöte, die zwangsläufig aus Kriegs- und Nachkriegszeit
entsprangen, oder aber sein Verhältnis zu anderen Frauen auf. Gleichzeitig wird
immer wieder der nicht nur harmonisch verlaufende Kontakt zu seinem Lehrer
Arnold Schönberg, der zu einer Art Ersatzvater wird, erlebbar. Bis letztendlich
- vor dem Hintergrund des Wiener Antisemitismus - Alban Berg in der Nacht auf
den 24. Dezember 1935 an den Folgen einer - in eine Blutvergiftung mündenden -
Furunkulose stirbt.
So erweist sich diese Biografie letztendlich als alles Andere denn ein
Notenzitat, das der geniale Notenjongleur einer Autogrammjägerin auf ihren
Zettel kritzelte. Die auf der Notenlinie entworfene Tonreihe "Es, C, H,
Eis, Es, E" entpuppte sich nämlich weniger als Melodie, sondern als ein
Buchstabencode, der folgendes unanständige Wort offenbarte: "Sch...e".
Fazit:
Herwig Knaus und Wilhelm Sinkovicz haben eine äußerst gelungene Melange aus
verschiedensten, teilweise ganz persönlichen Zeugnissen des Komponisten Alban
Berg zusammengetragen und in ein hochinformatives, flüssig lesbares Zeitzeugnis
übertragen, das einem der bedeutendsten Vertreter der musikalischen Moderne Österreichs
gebührend gerecht wird.
(Heike Geilen; 10/2008)
Herwig Knaus, Wilhelm Sinkovicz: "Alban
Berg. Zeitumstände - Lebenslinien"
Residenzverlag, 2008. 454 Seiten.
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