Lukas Bärfuss: "Hundert Tage"


Der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss legte im März 2008 seinen ersten Roman vor

Protagonist ist David Hohl, ein junger Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn von Kindesbeinen an. Eben dieser Sinn ist es, der David schließlich zur Arbeit bei einer Hilfsorganisation führt, die ihn in Ruanda einsetzt. David empfindet seine Arbeit und somit sich als sehr wichtig, auch wenn er die Bürokratie, die zum Helfen scheinbar so notwendig ist - immerhin geht es vor allem darum, Gelder für diverse Projekte bewilligt zu bekommen und zu verteilen - als eher müßig empfindet.
Die größte Verbundenheit zu Ruanda ist für David jedoch die Liebe zu einer Frau, die er bereits bei seiner Hinreise am Flughafen kennen lernte. Geradezu besessen ist er von Agathe, von der er sich so sehr wünscht, dass sie für ihn dasselbe empfinden möge wie er für sie. Doch gerade, als David seine große und letzte Chance, diese Frau ernsthaft zu erobern, ergreifen will, nimmt der Bürgerkrieg ungeahnte Ausmaße an ...
Während Ausländer, wie David einer ist, in Scharen außer Landes strömen, wozu eigens sogar Programme eingerichtet wurden, verschanzt sich David. Er will Ruanda nicht ohne seine große Liebe verlassen. Und so bleibt er, allein inmitten des Wahnsinns, der sich in Ruanda abspielt. Hundert Tage vergehen, bis er sich wieder auf den Weg zurück in die von ihm einst so geliebte und gebrauchte Normalität macht.

Ruanda, der Bürgerkrieg, der Genozid ... ein starkes, mächtiges und erschütterndes Thema, das Bärfuss sich für sein Romandebüt vor die Brust genommen hat. Neben der minutiösen Schilderung der Verläufe und den Verweisen auf die Historie, die möglicherweise zu all dem führte, ist sein Thema jedoch vor allem das der Positionierung und der "Wahrheit".
Bärfuss kritisiert die Untätigkeit des Auslands in diesem Zusammenhang scharf, vor allem der Schweiz schanzt er als Schweizer dabei jedoch eine große Rolle zu. Jene "Wahrheit", die er schildert, das ist die Wahrheit, welche sicherlich - vielleicht auch bei anderen Themen - in jedermanns Kopf spukt, die man aber nicht so recht in Worte fassen kann. Genau das hat Bärfuss in seinem Roman jedoch getan, und zwar gekonnt. Er schildert, mit welchem Gerechtigkeitssinn, vor allem aber mit welcher ehrlich gemeinten Hilfsbereitschaft die Hilfsorganisationen vor Ort tätig waren. Doch beides enttarnt er rasch als Lüge. Er zeigt, dass auch Menschen mit den besten Absichten sich letztlich über Gebühr einmischen. Geblendet von der Vorstellung, vor Ort helfen zu können, das Leben zu verbessern und sich dabei zugleich bloß nicht  zu sehr einzumischen, erkennen Bärfuss’ Figuren lange Zeit oder überhaupt nicht, welche Mitschuld sie tragen. Ein Beispiel sei dafür die Straße für den Bürgermeister, die nur für diesen und sein einziges Auto genehmigt wird, um im Gegenzug ein Waisenhaus gründen zu dürfen. Ein anderes Beispiel - das sogar mit dem ersten zusammenhängt - ist der Ärger, als Davids Vorgesetzter herausfindet, dass David eine Angestellte in seinem Garten Gemüse anbauen lässt. Welche Folgen diese einfache Geste nach sich zieht ... nun, das sollte man selbst lesen.

Bei allem Urteil und bei aller gegebenen Positionierung ließ der Autor sich jedoch nicht dazu hinreißen, das Ganze einfach so stehen zu lassen - und genau das ist es, was diesen Roman zu etwas Besonderem macht. Schuld trägt hier jeder und keiner zugleich. Indirekt schwebt stets die Erkenntnis mit, dass jeder im Leben Entscheidungen trifft und diese Entscheidungen unweigerlich ihre Folgen haben. Diese Philosophie ist keineswegs eine Absolution, macht das Ganze keineswegs leichter, sondern eher komplizierter und resignierender, aber genau das ist es, was den Leser neben der Thematik an sich besonders betroffen macht.
Bärfuss lässt in seinem Buch keinen Zweifel daran, dass der Genozid in Ruanda ein moderner Völkermord war (wie auch in entsprechenden Fachkreisen diskutiert wurde und wird). Modern in dem Sinne, dass es sich um einen geplanten Mord handelte, der letztlich nur deswegen realisiert werden konnte, weil den Tätern die Mittel zur Verfügung standen. Sehr drastisch schildert Bärfuss beispielsweise eine Szene, in der der Aufbau einer Radiostation beschrieben wird. Man lässt extra einen Mann aus der Schweiz kommen, der zum Betrieb eben jenes Radios noch Ratschläge ausarbeitet, durch die der Sender letztlich große Beliebtheit erreicht. Und eben dieser Sender ist es, über den man kurze Zeit später zum Töten auffordert ...

Dass Bärfuss Dramatiker ist, zeigt sich nicht nur am brisanten Thema selbst, sondern auch sehr stark in dessen Stil. Er arbeitet mit zahlreichen Vergleichen, stellt minutiöse, realistische Beobachtungen des Protagonisten abstrahierten Gedankengängen gegenüber und nutzt insgesamt ein sehr starkes Vokabular, sehr wohldosiert, aber merklich stets auf den gewünschten Effekt ausgerichtet.
Dieser Stil, zusammen mit der Tatsache, dass es zwar häufiger Absätze gibt, aber keinerlei Kapitel, dass David als Erzähler vor einem Freund auftritt, der aber nur auf den ersten Seiten relevant ist, dass die gesamte restliche Geschichte eine Erzählung aus der ersten Person ist, ist sicherlich vor dem Hintergrund der gewünschten Wirkung zu sehen, macht das Lesen jedoch auch teilweise recht anstrengend.

Anstrengend ist auch die dargestellte Liebes- oder Pseudoliebesgeschichte. Auf dieser Ebene spielt sich im Grunde dasselbe Thema ab, denn Davids Auserkorene ist eine Hutu, die eine immer drastischere Persönlichkeit entwickelt, doch wirkt dieser Teil manches Mal überflüssig, einfach völlig fehl am Platz. Heiße Sexspiele vor dem Hintergrund des Völkermords - das ist zwar keineswegs so plump realisiert worden, wie man denken mag, wurde wie alles Andere speziell in Szene gesetzt, aber so ganz schmecken will die Kombination dann letztlich doch nicht.

(Tanja Thome; 06/2008)


Lukas Bärfuss: "Hundert Tage"
Wallstein Verlag, 2008. 197 Seiten.
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Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun/Schweiz, zählt zu den erfolgreichsten Dramatikern der letzten Jahre. Seine Stücke werden weltweit gespielt. Bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift "Theater heute" wurde Bärfuss zum Dramatiker des Jahres 2005 gewählt, neben zahlreichen an deren Auszeichnung erhielt er den "Mühlheimer Dramatikerpreis".