Thomas Keul (Hrsg.): "Unwürdige Lektüren. Was Autoren heimlich lesen"
Mit einem Vorwort von Thomas Glavinic
Madame
Bovary, die dumme Gans, oder Ulysses' furchtbares
Wortgeklingel
29 Autoren berichten über ihre Lesevorlieben oder diskutieren
einfach nur über
"würdige" und "unwürdige" Literatur
"Ein gut erzogener Mensch kann alles sehen, alles
hören und jedenfalls
alles lesen. Ein gut erzogener Mensch wird bestimmt nicht verderben,
wenn er
versehentlich einen Erotikfilm sieht, einen Kriminalroman liest oder
eine Folge
der Schlagerparade hört", so eröffnet der
österreichische Autor
Thomas
Glavinic das kleine Büchlein "Unwürdige
Lektüren. Was Autoren
heimlich lesen".
Ein großartiger Einstieg, der den Leser sofort zwingt, zu
hinterfragen: Ist man
selbst gut erzogen? Welche Lesevorlieben hat man? Sollte man Hera Lind,
Susanne
Fröhlich und die "GALA"-Ausgaben ganz schnell in die
hinterste Ecke
seines Bücherregals verbannen, dort wo sie kein Besucher
sofort sieht?
Goethe
und
Thomas
Mann, Hegel, Sartre,
Schiller,
Kleist oder
Heine
machen sich
eindeutig besser in vorderster Front. Warum ist man nur nicht gleich
darauf
gekommen? Da war die eigene Entwicklung wohl doch nicht ganz so
mustergültig.
Und überhaupt, das Fernsehen: da wurde eben noch das neueste
Plasma-TV-Gerät
erworben, und nun liest man, dass dieses Medium Kluge klüger
und Dumme dümmer
macht. Welcher Klassifizierung ordnet man sich selbst zu? Wo
fängt Klugheit an?
"Manchmal braucht man dieses Gefühl der geistigen
Leere"
Man ist etwas verwirrt. Und diese Verwirrtheit wird beim Lesen von
intellektuellen, manchmal wirklich glänzend geschriebenen
Essays aufgrund der
gehäuft auftretenden - sich dem normalen Verständnis
entziehenden - Fremdwörter
noch verstärkt und verlagert sich beinahe ins Frustrierende.
Ein Gefühl der
Unterprivilegiertheit macht sich breit, das Bewusstsein eines nie
aufzuholenden
Rückstands. Schwärmen doch darin bekannte Autoren von
ihren prägenden
Leseerlebnissen. Und selbst? Auf dem Nachttischchen liegt nur die
sogenannte
Trivialliteratur mit ihren vereinfachenden, klischeehaften und oft eine
"heile Welt" vorspiegelnden Themen wie Liebe, Tod oder Abenteuer.
"Trotzdem macht das nichts", meint Thomas Glavinic. "Der
Konsum des Trivialen ist in gewissen Situationen notwendig. Vermutlich
gibt es
niemanden, der nicht manchmal am Abend so müde ist, dass er
keine Kraft mehr
hat für Komplexität und Hintersinn. Manchmal ist nur
eines gefragt: Klarheit.
Einfachheit. Unaufgeregtes Betrachten des Vorhersehbaren. Ob es ein
Fernsehkrimi
ist oder unwürdige Lektüre, manchmal muss man sich
den einfachen Antworten
ergeben. Solange es die Ausnahme bleibt, nicht zur Regel wird, ist es
erlaubt."
Danke, Thomas, Du rettest vor beginnenden Depressionen. "Manchmal
braucht man dieses Gefühl der geistigen Leere eben auch",
pflichtet
die österreichische Schriftstellerin Lisa Stift bei.
Auch andere deutschsprachige Autoren - darunter u. a.
Daniel
Kehlmann,
Sabine
Gruber, Alex
Capus, Annette Pehnt,
Julia
Franck, Franzobel
oder Martin
Amanshauser - stehen zu ihren
nichtkanongemäßen Lesevorlieben. Die
österreichische
Literaturzeitung "Volltext" befragt regelmäßig
deutschsprachige
Literaten über ihre heimlichen Leselaster. Herausgeber Thomas
Keul hat sie in
diesem unterhaltsamen Bändchen zusammengetragen.
In kurzen Essays verraten die Wortkünstler, was sie gerne
lesen, oder sie
diskutieren einfach nur über den Begriff einer "unwürdigen
Lektüre".
Entstanden ist eine einmal witzige, dann wieder tiefsinnige, ja auch
intellektuelle Lektüre, die man getrost in einem Ruck
durchlesen kann, besser
jedoch immer wieder in kleinen Häppchen genießen
sollte.
"ULYSSES" vs. "INSTYLE"
So erfährt der Leser zum Beispiel, dass der Schweizer Autor
Alex Capus immer
wieder versucht, sich mit den allergrößten Werken
der Weltliteratur aufs Sofa
zu setzen, und dann passiert meistens - nichts. "Der Mann ohne
Eigenschaften" gab ihm genauso wenig wie
"Ulysses"
von James
Joyce, bei dem er (wie viele Andere auch) bis jetzt nie über
Seite 15
hinauskam. Oder Daniel Kehlmann, der am liebsten seine eigenen Texte
liest. Für
Felicitas
Hoppe sind Bücher gar wie Brot, und wenn sie von
deren Lektüre nicht mehr
satt wird, dann fängt sie selbst an zu schreiben. Was sonst?
Ziemlich oft werden Krimis genannt;
Stephen
King scheint dabei Favorit zu sein,
Karl
May gehört bei vielen ebenfalls dazu. Aber auch der
"IKEA"-Katalog
scheint sich hoher Beliebtheit zu erfreuen. Oder hie und da eine Dosis
Tratsch
und Klatsch aus "Instyle", "In Touch"
oder die
erotischen Angebote der "Hamburger Morgenpost".
All diese fast durchweg großartigen Kolumnen über
Literatur - unwürdig oder
nicht - sind Gedankensplitter, die allein schon wegen ihrer ironischen,
manchmal
sarkastischen, ab und zu leidenschaftlichen Bekenntnisse lesenswert
sind.
Im Endeffekt jedoch ist "die hohe Kunst einer geheimen, zumal
unwürdigen
Lektüre (...) natürlich, sie geheim zu halten und
kein Wort darüber zu
verlieren", meint die Gewinnerin des "Deutschen Buchpreises
2007", Julia Franck. Und so wird man am Ende den Gedanken nicht los,
dass
uns die Autoren doch nicht die ganze Wahrheit verraten haben. Doch
egal, sie
haben wunderbar unterhalten und machen das Buch
äußerst lesens- wie
liebenswert.
Fazit:
Eigentlich hat man es ja schon immer geahnt: Schriftstellerinnen und
Schriftsteller, die tagtäglich um die schönsten,
klügsten und
sinnstiftendsten Wörter ringen, lesen auch nur wie ganz
normale Menschen.
Das Interessante an den "Unwürdigen Lektüren" sind
weniger die tatsächlichen
Vorlieben der Autoren als vielmehr ihre kreativen Begründungen.
(Heike Geilen; 07/2008)
Thomas
Keul (Hrsg.): "Unwürdige Lektüren. Was Autoren
heimlich lesen"
SchirmerGraf Verlag, 2008. 236 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hrsg.): "Literatur als Skandal.
Fälle -
Funktionen - Folgen"
Die Geschichte der Literatur ist auch eine Geschichte ihrer Skandale.
Die Zahl
der betroffenen Autoren ist groß, sie reicht von Gottfried
von Straßburg bis
Martin
Walser oder Vladimir
Sorokin. Es gibt eine Vielzahl von Mechanismen, die
ineinandergreifen, um
einen literarischen Text zu einem Skandal werden zu lassen. Im
vorliegenden Band
werden exemplarische Skandale der Weltliteratur nachgezeichnet, dabei
wird auch
nach den juristischen, den sozialen, den wirtschaftlichen, den
politischen
Rahmenbedingungen gefragt und die Funktion des Skandals für
seine Initiatoren
oder andere "Nutznießer" in den Blick genommen. (Vandenhoeck
&
Ruprecht)
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