Paul Auster: "Mann im Dunkel"
Der Oberzauberer
Paul Auster spielt mit Realitätsebenen. Fiktion oder Wirklichkeit, gibt es
überhaupt einen Unterschied? Der Krieg scheint überall zu sein.
Am 17. Februar 1600 wurde der italienische Philosoph Giordano Bruno in Rom auf
dem Scheiterhaufen verbrannt. Zu dieser Zeit kein ungewöhnliches Vorkommnis.
Die Inquisition war schnell in ihren Urteilen des Vergehens in Ketzerei und
Magie. Ungewöhnlich war jedoch der Inhalt von Brunos Gedanken, die durch die
Lehre von Nikolaus Kopernikus inspiriert waren.
In einer Zeit, als für die meisten die Erde der Mittelpunkt von allem war,
vertrat Bruno die Meinung, dass neben einem unbegrenzten und unendlichen
Weltall, dieses außerdem von unzähligen Welten erfüllt sei, die
womöglich
ebenso bewohnt und belebt seien wie die Erde. Zudem hatte er die Vorstellung,
dass alle Körper beseelt seien und sich in einer lebendigen Wechselwirkung im
Universum befänden.
Auch in Paul Austers Roman "Mann im Dunkel" erfährt die Philosophie
Brunos Bedeutung. Der alternde 72-jährige Literaturkritiker August Brill liegt
in schlaflosen Nächten wach und erträumt sich Geschichten. "Nichts
Besonderes, aber solange ich mich damit beschäftige, muss ich schon nicht an
die Dinge denken, die ich lieber vergessen möchte." Vergessen will er
seine Schmerzen an Körper und Geist. Durch einen Autounfall ist er beinahe
bewegungsunfähig an Bett und Rollstuhl gefesselt. Seine Frau starb vor einiger
Zeit an Krebs. Nun wohnt er bei seiner Tochter Miriam und seiner Enkelin Katya.
Auch diese beiden haben in jüngster Zeit Schicksalsschläge hinnehmen müssen.
Miriam wurde von ihrem Mann verlassen, und Katyas Freund Titus kam auf
entsetzliche Art und Weise ums Leben (wie, dies verrät Auster erst am Ende des
Buches). Daraufhin brach sie ihr Studium an der Filmhochschule ab. Alle drei
versuchen ihre Traumata auf eigene Art und Weise zu überdecken - mit Bildern.
Der eine erspinnt Geschichten, die Enkelin schaut sich exzessiv Filme an, und
Miriam schreibt an einer Biografie über Rose Hawthorne, eine Frau, die nach
Jahren des Scheiterns spät noch zum Glauben konvertierte und dreißig Jahre
lang unheilbar Kranke pflegte.
Wachträume, die Realität werden
"Nichts Besonderes" meint Brill zu seinen Wachträumen. Doch
weit gefehlt. Sie scheinen in einer Art Parallelwelt wahr zu werden. Einer Welt,
in der zwar das "World Trade Center" in New York noch steht und
9/11 genauso wenig stattgefunden hat wie die Invasion der USA im Irak,
zur gleichen Zeit jedoch ein blutiger, von Terror gepeinigter
inneramerikanischer Bürgerkrieg das Land spaltet. Seit einer betrügerischen
Wahl im Jahr 2000 kämpfen die Föderalisten unter George W. Bush gegen sechzehn
unabhängige Einzelstaaten, die damals mehrheitlich demokratisch gewählt
hatten. 13 Millionen Tote hat das sinnlose Gemetzel bereits gefordert.
Die Kritik des Autors an der Politik der USA springt einen geradezu aus den
Seiten an. "Über diese gestohlene Wahl kann ich mich immer noch
aufregen, es war ein empörender Moment in der
amerikanischen
Geschichte. Dieser
Skandal hat mich zu der Geschichte in 'Mann im Dunkel' inspiriert. Ich habe
seitdem das unheimliche Gefühl, wir leben in einer Parallelwelt, und die
Bush-Jahre sind nur Einbildung. In der wirklichen Welt beendet Al Gore gerade
seine zweite Amtsperiode, und es gibt keinen Krieg im Irak", sagte
Auster in einem Interview. "Seit George Bush an der Macht ist, bin ich
aufgebracht und bis zur Weißglut wütend. Wir zerstören uns gerade selbst. Wie
kann es sein, dass wir immer noch diesen unglaublich sinnlosen Krieg im Irak führen?
Wir haben die Verfassung untergraben. Wir haben so viele Dinge getan, die ein
vernünftiger Mensch nicht machen würde, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes
sprachlos bin."
August Brills erträumte Figur - Owen Brick, ein bald dreißigjähriger
Profizauberer, der unter dem Namen "Der Große Zavallo" hauptsächlich
bei Kindergeburtstagen auftritt - wacht eines Tages in dieser wüsten Welt auf.
Seinen Auftrag erfährt er recht schnell: eben jenen Erfinder dieser bösen
Geschichten umbringen. "Ist der Kopf erst beseitigt, hört der Krieg
auf. So einfach ist das", erklärt man ihm. Brick will nicht töten.
Doch bei Zuwiderhandlung droht man, ihm und seiner Frau eine Kugel durch den
Kopf zu jagen. Zwar gelingt es Brick, in die reale Welt zurückzukehren, aber
seine Häscher finden ihn auch dort.
"Und die wunderliche Welt dreht sich weiter."
Schnitt. Abrupter Szenenwechsel.
Nach zwei Dritteln des Buches ist das Szenario beendet. "Der Große Zavallo"
hat ausgezaubert, wird mit keinem Wort mehr erwähnt. "Giordano Bruno
und die Theorie unendlicher Welten", sinniert Brill, "aber es
gibt noch andere Brocken auszugraben."
Und genau das tut Auster. Eine nahezu sanfte und sentimentale Stimmung stellt
sich nun ein. Die letzten 75 Seiten handeln von Erinnerungen des alten Kritikers
und einem nächtlichen Gespräch mit seiner Enkelin und steuern mit Bedacht auf
die Enthüllung erschreckender Details hin. "Ich habe unser Gespräch zu
einer Nacht der Wahrheit im Schloss der Verzweiflung gemacht ..."
Der Autor setzt erneut auf sein altbekanntes Stilmittel. Er schafft Verwirrung,
bricht Handlungen abrupt ab und überlagert Bilder. Der Leser schwebt ständig
in einem Wechselbad der Gefühle. Wohin führt das? Hat dies alles mit der
Trauerarbeit der Protagonisten zu tun? Wird es das sogenannte Licht am Ende des
Tunnels noch geben?
Paul Auster erweist sich selbst als der "große Zauberer". Was in der
Quantenphysik ein bekanntes Phänomen ist, findet hier in der Literatur statt:
alles scheint miteinander verschränkt. Meisterhaft, wie er mit ein, zwei
Strichen ein ganzes Panorama unterschiedlicher Universen entwirft - ein
Multiversum.
Letztendlich dreht sich die wunderliche Welt immer noch.
Fazit:
"Mann im Dunkel" ist ein spannender, komplexer, origineller und
politischer Roman des us-amerikanischen Autors. Er ist sanft und ergreifend,
zugleich jedoch auch grausam und schockierend. Ein großartiges Buch!
Werner Schmitz hat es vorzüglich in die deutsche Fassung übertragen.
(Heike Geilen; 10/2008)
Paul
Auster: "Mann im Dunkel"
(Originaltitel "Man in the Dark")
Deutsch von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2008. 220 Seiten.
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Hörbuch:
Argon, 2008.
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Taschenbuch:
rororo, 2010.
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