Abt Hermann Josef Kugler: "Über allem die Liebe"

Die Augustinusregel als spiritueller Wegweiser


Im Jahr 397 nach Christus hat der Kirchenvater Augustinus in Mailand seine Augustinusregel verfasst, die seitdem die Grundlage und der Maßstab für die weitere Ausbreitung und Entwicklung des Ordenslebens in Westeuropa wurde. Auch die Regel des heiligen Benedikt, die dieser etwa hundert Jahre später ausformulierte, ist in wesentlichen Teilen von der Augustinusregel inspiriert.

Der Abt der Prämonstratenserabtei in Windberg, Hermann Josef Kugler, unternimmt mit diesem Buch den Versuch, die Regel des Augustinus für zeitgenössische Menschen zu erläutern. Und er tut dies nicht nur für seine Zeitgenossen in den Klöstern, Frauen und Männer, deren Zahl immer weiter abnimmt, sondern er tut es für alle Menschen, die der christlichen Spiritualität in ihrem eigenen Leben Raum geben wollen.

Er bietet ihnen mit diesem Buch so etwas wie einen Wegweiser durch ihr Leben und ihre Erfahrungen an. Und es ist ganz erstaunlich, was dabei herauskommt. Ein 1600 Jahre alter Text, geschrieben für das Zusammenleben in einer monastischen Gemeinschaft in einer Umwelt, wie sie von der unsrigen nicht verschiedener sein könnte, entpuppt sich, auch durch die Auslegung von Abt Kugler, als ein Text, der von meinem eigenen Leben spricht.
Der spricht von meinem Ich, der spricht von meinen Mitmenschen und meinen Beziehungen zu ihnen und den Gefühlen, die ich ihnen gegenüber habe und die sie in mir auslösen, der spricht von den Konflikten und dem Streit, den das nicht selten mit sich bringt. Es ist ein Text, der spricht vom Teilen und der drückenden Last des Besitzes. Ein Text, der spricht von meiner Sexualität, von meinem Begehren, und in welche Abgründe es mich führen kann, wenn ich es von mir Besitz ergreifen lasse.

Und der immer wieder redet von meinem Mitmenschen. Denn es ist ein Hauptgedanke des Augustinus, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen eine Einheit bilden. Benedikt XVI. hat das so ausgedrückt: "Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im andern immer nur den andern sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur 'fromm' sein möchte, nur meine 'religiösen Pflichten' tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch 'korrekt', aber ohne Liebe - Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar."
Das gesamte vorliegende Buch, in dem die ganze Augustinusregel am Ende noch einmal abgedruckt ist, nachdem sie der Autor Stück für Stück ausgelegt hat, spricht davon.

Und davon, wie sich diese Liebe zu Gott und zum Nächsten umsetzt, sozusagen materialisiert in meinen Beziehungen zu Hause. So wird einem etwa ganz deutlich, wenn Kugler einen Abschnitt der Regel beschreibt, nach dem die Mönche bei den Mahlzeiten schweigen sollen, was das für unsere Gesprächskultur bedeuten könnte.

Oder wenn es darum geht, wie sich Augustinus den Umgang mit Starken und Schwachen vorstellt. Ein längeres Beispiel für Kuglers Auslegung sei zitiert:
"Wer ist schwach und wer ist stark? In unserer Gesellschaft ist natürlich der, der viel hat, stärker als der, der weniger hat. Die Reichen haben die Macht. Die Schwachen sind die Armen und Bedürftigen. Augustinus dreht eine solche Vorstellung um. Er durchbricht unsere gängigen Vorstellungen von schwach und stark. Für ihn ist derjenige stark, der weniger hat und braucht. Und deshalb ist derjenige auch der Glücklichere! Der Starke ist also der, der imstande ist, mehr zu leisten, und der weniger Bedürfnisse hat. Ein solches Denken stellt unsere Gesellschaft auf den Kopf."

Zwar ist die Regel für Ordensleute geschrieben, aber in der Auslegung von Abt Hermann Josef Kugler wird sie zu einer aktuellen spirituellen Wegweisung für viele Situationen in unserem täglichen Alltag. Viele Male habe ich bei der Lektüre innegehalten und nachgedacht, weil mir sofort ein Beispiel oder eine Parallele aus meinem Leben eingefallen ist.

Das Buch ist für alle Menschen von Interesse, die sich selbst noch wichtig sind, denen deshalb der Nächste wichtig ist und infolgedessen auch Gott.

(Winfried Stanzick; 09/2008)


Abt Hermann Josef Kugler: "Über allem die Liebe. Die Augustinusregel als spiritueller Wegweiser"
Sankt Ulrich Verlag, 2008. 158 Seiten.
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