Ernst Augustin: "Eastend"


"Ein Stück schlechtes Glück" oder die Kunst des Machbaren
Ein Blick durch psychotherapeutische Gesteinsmassen Ende der 1970er-Jahre


Neun Romane hat Ernst Augustin bereits publiziert, aber trotzdem ist er in der deutschen Literaturszene wohl eher der große Unbekannte. In jüngster Zeit erinnert man sich wieder an den Schriftsteller, der zugleich Arzt, Neurologe und Psychiater war. Mehrere seiner Bücher wurden neu aufgelegt. So auch das vorliegende, welches Gelegenheit bietet, einen großartigen Autor zu entdecken und dabei auf exzellente Literatur zu stoßen. Denn "Eastend" kann man durchaus als kleines literarisches Meisterwerk bezeichnen, geschrieben mit einem Hauch intellektueller Grazie.

Das Buch setzt an einem trüben Nachmittag im Jahr 1981 ein. Der angesehene, einflussreiche und wohlhabende Psychotherapeut Almond Gray sitzt mit seinem Freund Bannister in einem eleganten Haus im Londoner Eastend und erzählt diesem sein Leben oder besser gesagt, wie er zu dem kam, was es heute ist. Denn bis vor kurzem hieß er noch Almund Grau, war ein mittelmäßiger Schriftsteller und wohnte mit seiner Frau Kerrie in München.

Seine "Persönlichkeitswandlung" beginnt in den späten Siebzigern, als die Enkelin einer tartarischen Großmutter - seine Frau - ihm eines Tages in der sanftrotlackierten Küche offenbart: "Kniepelchen, ich habe einen Gedanken: 'Wir gehen in die Gruppe.' " Widerstand zwecklos: "Du wirst dich doch nicht so unmodern machen."

Fürwahr, Gruppentherapie war das neue Zauberwort. Sogenannte Selbsthilfetempel sprangen wie Geysire aus dem Boden. Die wilden 68er waren vorbei, das gebildete Bürgertum hatte sich in seiner Selbstzufriedenheit arrangiert und partizipierte am wirtschaftlichen Aufschwung. Doch irgendetwas fehlte. Vielleicht eine Art Selbstverpflichtung, sich in einer Gruppe Gleichgesinnter von den Prägungen einer bürgerlichen Erziehung und deren repressiver Moral zu befreien, Selbsterfahrungen zu sammeln, lange Verschüttetes zutage zu fördern, gesellschaftliche Zwänge oder sexuelle Hemmungen aufzulösen. "Such dir einen guten Therapeuten, und die Ehe wird wieder funktionieren. Geh zu einer Gruppentherapie, und jeder wird sich mitteilen und dann den anderen in Tränen umarmen", so das damalige Motto, welches Ernst Augustin in seinem Buch kritisch betrachtet und auf Grund seines beruflichen Vorlebens als exzellenter Kenner hervorragend parodiert.

Persönliche Odyssee mit Revanche
Doch zurück zum Inhalt: Almund Grau macht sich natürlich nicht unmodern und begleitet Kerrie, trotz starker Zweifel an der "psychedelischen Heilsbringung". Hörte man von derartigen Gruppenerfahrungen zuweilen nicht immer nur Gutes, sondern manchmal nahmen sie gar "Ausmaße griechischer Tragödien an und endeten mit der Zerschmetterung aller Teilnehmer. Mit der vollständigen Zerschmetterung."

Und so kommt es dann auch. Der Therapieguru Friedjelm Bähr spielt seine Macht aus und verleitet die Mitglieder zu absurdesten Spielchen. Grau jedoch kann sich partout nicht dazu überwinden, bei den allgemeinen Streichelorgien mitzumachen und die Probleme der anderen Gruppenmitglieder mit emotionaler Erschütterung zu kommentieren. Er kontert stattdessen mit Ironie und wird mit seinen "gewöhnlichen", durchaus realistischen Ansichten als Störenfried empfunden. Man legt ihm nahe, in Zukunft doch besser nicht mehr an den wöchentlichen Sitzungen teilzunehmen. Dass er es dennoch tut, ist der Beginn seiner persönlichen Odyssee.

Er verliert Kerrie, unternimmt einen Selbstmordversuch in den Bergen, der jedoch schmählich scheitert, reist durchs Land und besucht seine alte Heimat Schwerin (eine Reminiszenz an die eigene Herkunft: Augustin legte hier sein Abitur ab, studierte in Rostock und arbeitete in der Psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité, bevor er 1961 als Flüchtling aus der DDR nach München kam). Letztendlich fliegt er nach London und entschließt sich dort zu einem neuen Leben. Einige Zeit wohnt er in einem heruntergekommenen Asyl für Obdachlose, Behinderte und Ausländer, um eines Tages den Geist aus der Flasche bzw. einen obskuren Immobilienmakler oder besser Lebenskünstler mit Namen Bannister aus einer misslichen Lage zu befreien, der ihm daraufhin drei Wünsche gewährt.

Der erste führt zu der Möglichkeit eines spottbilligen Hauserwerbs in bester Lage. Den zweiten erfüllt er sich mit einigen Tipps Bannisters selbst. Die notwendigen Kenntnisse findet er in Antiquariatsbüchern über bewusstseinserweiterte, natürliche Drogen. Letztendlich kehrt er etwa acht Monate später und mit neuer Identität - als Psychotherapeut Almond Gray - nach München zurück, sucht die alte Gruppe auf, bei der er sich - jetzt selbst ein Experte - für die einst erlittene Schmach revanchiert. Aber eigentlich geht es ihm nur um eins: Grau bzw. Gray will seine Frau zurück. Nur, Kerrie ist nicht mehr da. Aber er hat ja noch einen Wunsch übrig ...

Ein Hauch intellektueller Grazie
Nach dem ausgesprochenen Lektüregenuss des Buches fragt man sich, warum Augustin im Unterschied zu seinen Generationsgenossen Grass und Walser (alle wurden 1927 geboren) der große Erfolg bisher verwehrt blieb. "Eastend" - und darf man dem Feuilleton glauben, auch all seine anderen acht Werke - hat alles, was einen guten Roman auszeichnet: er ist unterhaltend und humorvoll, gleichzeitig "formal anspruchsvoll, psychologisch komplex und postmodern schillernd - eine Parabel über die Absurdität des Daseins und die grotesken Momente des menschlichen Miteinanders", wie im "Deutschlandradio" zu hören war.

Fürwahr: Wie Ernst Augustin mit großartiger Situationskomik die Rituale der Psychogruppe als hohles Imponier- und Balzgehabe darstellt und die Gruppensitzungen und ihre Rituale beschreibt, ist einzigartig. Er karikiert den Therapiejargon und entlarvt die Mitglieder als eitle Selbstdarsteller. Augustin ist ein exzellenter Beobachter und zeichnet großartige Menschenstudien.

Ebenso faszinierend, ungeheuer facettenreich und atmosphärisch dicht, manchmal surreal anmutend, sind seine Beschreibungen des multikulturellen Londoner Großstadtlebens jenseits der Geschäftsviertel, ein London, das heutzutage längst nicht mehr existiert - fantastischer Realismus in Reinkultur.
Von bezaubernder, gleichwohl kostbarer Einfachheit ist die literarische Darstellung des Liebeslebens des Ehepaars Almund und Kerrie.

Bei Augustin sitzt einfach jeder Strich, egal aus welcher Bewusstseinssphäre oder imaginären Welt er gerade berichtet. "Seine Art zu erzählen ist einzigartig, traumatisch, hypnotisierend und rauschhaft verstörend. Ich wüsste keinen heutigen Autor, der dem Leser so rasch und so unwiderstehlich den Boden unter den Füßen wegzieht, der den Schritt vom Alltag zum Albtraum mit so wenigen Worten zu beschwören, der durch eine Stadt wie ein Führer durchs Inferno zu gehen vermag." ("DIE ZEIT" Nr. 1 vom 29.12.2005).

Innenwelt und Außenwelt, Bewusstsein und Unbewusstes stehen in einem prekären Verhältnis zueinander.

Fazit:
"Eastend" ist die Jagd eines Schriftstellers und eines Mannes nach Glück und Erfolg.
Eine meisterhafte Verführungslektüre, ein magisches Buch, voller kleiner erzählerischer Wunderwerke und Überraschungen und gespickt mit großartigem Humor, von einem Schriftsteller, den es unbedingt (wieder neu) zu entdecken gilt.

(Heike Geilen; 06/2008)


Ernst Augustin: "Eastend"
Taschenbuch:
dtv, 2008. 328 Seiten.
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Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2005. 328 Seiten.
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Dr. Ernst Augustin wurde am 31. Oktober 1927 in Hirschberg/Riesengebirge geboren. Er war als Arzt, Neurologe und Psychiater jahrelang in Afghanistan tätig, später als psychiatrischer Gutachter in München. Ernst Augustin ist Autor einer Reihe von Romanen, u. a. "Der Kopf" (1962), "Raumlicht: Der Fall Evelyne B." (1976), "Der amerikanische Traum" (1989) und "Mahmud der Bastard" (1992) und wurde für sein literarisches Werk mit zahlreichen Preisen (bspw. dem "Hermann-Hesse-Preis" und dem "Kleist-Preis") ausgezeichnet.
Ernst Augustin starb am 3. November 2019 im Alter von 92 Jahren in München.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Mahmud der Bastard"

Afghanistan im Jahr 1000. Mahmud von Ghasni, unrechtmäßiger Sohn eines kleinen Dorffürsten, zieht mit einer Handvoll Männer über den Khyberpass, um ein großes Reich zu zerstören und neu zu errichten. Die wahre Geschichte des ersten der Mogulkaiser, aber auch eine Geschichte der Wunder, der guten und bösen Lüste, der unerwarteten Schönheiten und knietiefen Schatzhalden, in denen Mahmud am Ende watet. Mahmud bezwingt seinen ersten Widersacher schon in der Wiege, er wird mit Löwenmilch aufgezogen, er wird eine Frau heiraten, die es gar nicht gibt. Zweimal. Er reitet Pferde mit edlen Namen, "Farbe des Windes", "Kaiser der Pferdekaiser", seine Rüstung ist vergrünt, und auf seinem Schild ist eine vertrocknete Feindeshand montiert, als er ins Halbdunkel Indiens hinabzieht. Landschaften der Seele tun sich auf: Lautlos rieselnde Wüsten, unbewacht schlafende Städte, Höhlenlabyrinthe drohen, schwarze Wasser erheben sich, Schlachtkolosse auf feinfühligen Elefantensohlen. Die Märchen des Ostens beginnen immer mit den Worten: Es war und es war nicht. "Mahmud der Bastard" ist gewesen. (dtv)
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"Goldene Zeiten"
Ernst Augustin liest Ernst Augustin.
Wer Ernst Augustin jemals seine eigenen Geschichten hat lesen hören, wird seinen unnachahmlichen Witz nicht vergessen und wird seine Stimme hören, wann immer er wieder zu seinen Texten greift. Wenn wir daran gehen, unser Haus einbruchsicher zumachen, dann wird das so wunderbar perfekt geschehen, dass wir am Ende selbst nicht mehr hineinkommen. Vielleicht, dass wir es an lauen Sommerabenden voller Stolz umrunden: wie ganz uneinnehmbar, wie schön!
Dieses Hörbuch versammelt Perlen von Ernst Augustin. Sie sind aus großer Not entstanden, wegen der Arztrechnungen, der Fahrradfahrer, der Hitparaden der Volksmusik ... (C.H. Beck)
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"Die Schule der Nackten"
"Es gibt dort eine Freizone, wo ich alles ablege. Alle Bindungen, alle erworbenen Eigenschaften, meinen Beruf, meinen Namen, meine gesamte Vergangenheit, auch Schuhe und Strümpfe, das Hemd mit dem Armani-Etikett, die Hose von 'Bonard' und das gesamte Unterzeug ... vor allem aber gebe ich meine Scham ab."
Der Erzähler ist Historiker und Asienexperte, wohlsituierter Alleinstehender - und es ist ein Jahrhundertsommer in München. Hier, im FKK-Gelände eines Freibades, erfüllt sich das Geschick dieses älteren Herrn, dessen erstes zaghaftes Betreten der weißen Flecke einer Stadtlandschaft in einem erbitterten Existenzkampf und einem aufregenden Beziehungsdrama mündet ... (dtv)
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"Badehaus Zwei"
Es ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, der nach biblischem Vorbild in die Arme des Vaters zurückkehrt - sie ist so wundersam, wie sie sein sollte, nur hat sie heutzutage ihre Tücken. Denn der Sohn ist hier der falsche Sohn, dargestellt vom windigen Hochstapler Eddie. Aber der Vater ist auch nicht der, mit dem hier zu rechnen war, der Balneologe und Badehausbesitzer Haferkorn. Vielmehr verläuft die Geschichte halsbrecherisch in drei abgrundschwarzen Badegängen, die eines bewirken: Eddie setzt sein Leben ein, um am Ende wahrhaftiger Sohn des wahrhaftig geliebten Vaters zu sein. Dieses fantasievolle Gaunerstück - "Das Badehaus" erschien 1963 - , mit seinen Variationen und Gegenläufigkeiten kunstvoll wie eine Fuge gesetzt, wurde vom Autor, den die Geschichte des falschen Sohnes nie losließ, im dramatischen Abstand fast eines halben Jahrhunderts neu entworfen, auf weiten Strecken neu geschrieben: "Badehaus Zwei". (C.H. Beck)
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"Schönes Abendland"
Ernst Augustins Roman in drei Teilen erzählt die Parallelbiografien von Drillingen, nach einem Hans-im-Glück-Muster jeweils von ihnen selbst berichtet: Stani, der Kaufmann, beginnt sehr früh mit scharfer Geschäftstätigkeit und endet in einem Imperium obszön überquellender Warenlager. Kulle ersteigt die ordensbehangene Stufenleiter des Militärs, bringt es mehr oder weniger tragisch bis zum General. Beffchen schließlich schneidet sich mit dem Sezier-Schneid des Chirurgen virtuos durch den gesamten Komplex der Medizin bis zum letzten Schnitt. Alle drei einer Strategie unaufhaltsamen Abstiegs folgend, durch abendländische Landschaften und Jahrhunderte hindurch.
Denn diese so vergnüglich boshaften Lebensläufe der Drei tragen in sich eine ganze abendländische Kultur- und Sittengeschichte gargantuesken Ausmaßes. Hier ist ein Abendland üppiger Schönheit und genialen Erfindergeistes, in das "Mamma" ihre Drillinge hineingebiert, aber auch des Militarismus, Kolonialismus und der menschlichen Unersättlichkeit. Der Kreislauf des Staunens über das Geborenwerden und Sterben, und wohin? (C.H. Beck)
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"Der amerikanische Traum"
Ein Abenteuerroman, ein magischer Thriller, Hawk Steen auf der Spur dreier Verbrecher. Schauplätze sind das fröstelnd graue Watchacoogie, das schwüle Art-Deco-Hotel, das Salsa-durchschüttelte San José. Man ist mit Zieloptik ausgerüstet, mit der 45er Loyola, Dr. Prem’s Tropenpaste gegen Stechwurmbefall, das Überlebensmesser trägt im hohlen Griff die Nylonschnur mit Fischhaken. Im freien Fall geht es von den schwarzglitzernden Wolkenkratzerstädten hinab ins grüne "Paradies", wo die tödliche Smaragdfliege wartet, wo inmitten eines Schöpfungsknalls nie gesehener Tropenbäume das finale Duell stattfindet. Und die Waffe ist die blanke Fantasie.
Da sind der schmächtige Eddie, der in die Kasse gegriffen hat, der quallige betrügerische Marko und die kahle Kampfmaschine namens Bag, alle Drei verbunden durch eine Schuld, die sie gemeinsam auf sich geladen haben - beginnend 1944, im vorletzten Kriegsjahr: Es ist ein prächtiger Sommertag, ein gelbgoldenes Wunder von Feldern, Wiesen, warmen nachgiebigen Chausseen, als sich der kleinen Stadt in Mecklenburg von Westen her eine zweimotorige Lancaster nähert ... So beginnt die Geschichte, und zugleich ist es ihr Ende, bittersüße Endzeit eines sterbenden elfjährigen Jungen - der Traum vom gelebten Leben. (C.H. Beck)
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"Romane und Erzählungen"
Dieser Autor erscheint gewissermaßen wie eine seiner erfolgreichen Arzt-Figuren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - man hört, man sieht, man lacht, man fühlt, man kommt wieder zu Sinnen.
Diese Jubiläumsausgabe seiner Romane und Erzählungen versammelt Ernst Augustins wichtigste Werke, die teilweise überarbeitet wurden, in einer sorgfältigen Edition, als Aufforderung zu einer literarischen Entdeckungsreise. (C.H. Beck)
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