Margaret Atwood: "Moralische Unordnung"


"Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie meine Mutter damals aussah. Nein: wie ihr Gesicht aussah. Über ihr Gesicht haben sich so viel spätere Versionen gelegt, Sedimentschichten gleich, dass ich offensichtlich nicht mehr in der Lage bin, jenes andere, frühere Gesicht freizulegen. Selbst die Fotos von ihr entsprechen keinem Bild, das ich mir ins Gedächtnis rufen kann. Ich erinnere mich jedoch an das Wesentliche: an ihre Stimme, (...)" (Seite 233)

Der Blick wandert freier als das Wort

Margaret Atwood, die bekannte kanadische Erzählerin, hat wieder einen Band ihrer Poesien des Lebens in der weiten Provinz veröffentlicht. "Moralische Unordnung" ist nicht aus einem Guss; es ist nachträglich aus Erzählungen zusammengesetzt, die Atwood zwischen 1996 und 2005 veröffentlichte.

Wie in vielen anderen ihrer Werke stellt sie auch in "Moralische Unordnung" eine Frauenfigur ins Zentrum. Diesmal ist es die alternde Literaturwissenschaftlerin Nell, die Erinnerungen an ihr Leben Revue passieren lässt. Atwood blickt bildreich mit feiner Ironie, gleichzeitig ebenso distanziert wie persönlich involviert auf die verschiedenen Lebensabschnitte Nells, von der Kindheit mit ihrer jüngeren, schwächeren Schwester, bis zur Phase, in der sie erkennt, dass sie für ihre Eltern da sein muss, nicht umgekehrt. Eigentlich ein ganz normales Leben - wären da nicht die unverkennbaren autobiografischen Züge: Wie Nells Vater war auch Carl Edmund Atwood Biologe, der seine Familie auf lange Forschungsaufenthalte in entlegene Waldgebiete Nordkanadas mitnahm; wie die Protagonistin studierte sie englische Literatur, arbeitete für Verlage und lehrte an Universitäten. Auch die zentralen Kapitel über das Leben auf einer Farm und die nicht ganz unkomplizierte Beziehung zum allzu gutmütigen Tig, seinen zwei Söhnen und zu seiner wankelmütigen Exfrau Frau Oona könnten aus Atwoods eigenem Leben stammen.
Schließlich liest man im Nachwort, dass eigentlich auch der Buchtitel "Moralische Unordnung" einem Roman von Atwoods Lebensgefährten Graeme Gibson entnommen ist, der 1996 beschloss, keine Romane mehr zu veröffentlichen.

Der innere Zusammenhalt der einzelnen Erzählungen ist nicht immer deutlich, manchmal kommen dieselben Namen vor oder ähnliche Situationen; jedoch wechselt die Erzählperspektive zwischen "ich" und der dritten Person. Genau diese Vielschichtigkeit verleiht dem Buch eine gewisse Natürlichkeit, zeigt mehr als zehnjährige Beschäftigung mit dieser Lebensgeschichte, ähnelt dem Blick interessierter und aufmerksamer Personen und befreit den Roman davon, eine Biografie, die sich über sechs Jahrzehnte spannt, stilistisch einheitlich gestalten zu müssen. Der wechselnde Blick von der Ich-Erzählung der Jugend zur distanzierteren Betrachtungsweise des Erwachsenenalters erinnert an die zunehmende Selbstreflexion, in die sich auch literarische Anklänge und Vergleiche mischen.

Das Buch zeigt, wie ein Leben vergeht, vergehen muss und zu Ende gehen wird. Dagegen kann man nichts machen, muss auch nichts machen - außer bewusst zu leben und zu lesen.

(Wolfgang Moser; 07/2008)


Margaret Atwood: "Moralische Unordnung"
(Originaltitel "Moral Disorder")
Übersetzt von Malte Friedrich. 
Gebundene Ausgabe:
Berlin Verlag, 2008. 253 Seiten.
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Taschenbuch:
BvT, 2009. 253 Seiten.
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Margaret Atwood wurde anno 2008 der spanische "Prinz-von-Asturien-Preis" in der Sparte Literatur zuerkannt.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Das Jahr der Flut"

Hoch auf den Dächern der Stadt, dem Himmel am nächsten, liegt das Paradies. Seine Bewohner nähren sich von Gemüse, Früchten und Honig, und kultivieren ihren Garten Eden, den sie dem Umland einer Stadt jenseits der drohenden Klimakatastrophe abgetrotzt haben. Die junge, kämpferische Toby findet Zuflucht in dieser Gemeinschaft der "Gärtner Gottes", nachdem sie durch die Maschen der Gesellschaft gefallen ist, die von einer rigiden, militärisch organisierten Wirtschaftsorganisation regiert wird. Hier trifft sie auf Ren, die spätere Trapeztänzerin, auf die anarchische Amanda und Jimmy, der zu ihnen allen in einer ganz speziellen Beziehung steht. Großenteils aus Tobys Perspektive erzählt Margaret Atwood von einer Welt, in der die globalisierte Wirtschaft die Exekutive übernommen hat, in der die Forschung lediglich ökonomischer Kontrolle unterworfen ist.
Ihr berühmter "Report der Magd", mit dem Atwood zum ersten Mal ihr waches politisches Gespür für die unterschwelligen und gefährlichen Entwicklungen der Welt unter Beweis stellte, wurde ein halbes Jahrhundert nach Orwells "1984" zum Kultbuch einer ganzen Generation. In "Das Jahr der Flut" entwirft Atwood aufs Neue eine Zukunft, deren Realität weniger fern liegt als wir uns womöglich eingestehen möchten. (Berlin Verlag)
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