Aharon Appelfeld: "Blumen der Finsternis"
"Wann sind die Tränen
in mir erstarrt?"
"Wir vergessen manchmal, wozu wir leben. Dann glauben wir, Geld sei
wichtig, fleischliche Liebe und Besitz seien wichtig, und das ist ein großer
Fehler." Diese einfachen Worte gebraucht die Haushälterin Sofia, als
sie an einem Sonntag aus der Kirche zurückkommt und der Familie Mansfeld von
der Predigt des Pfarrers erzählt. Als wie wahr sich die drei Sätze noch
behaupten sollten, ahnt der elfjährige Hugo nicht. Doch schon bald soll sich
sein behütetes Leben verändern, weg von der offenherzigen Apothekerfamilie,
hinein in die dunkle und muffige Abstellkammer einer Prostituierten.
Die Mansfelds sind Juden, und Hugo wurde in eine Zeit hineingeboren, die mit
unvorstellbarer Grausamkeit an die Auslöschung dieses Menschenschlages ging.
"Warum werden wir (...) bestraft? (...)
Warum werden Juden (...) weggejagt?", fragt sich Hugo. Zu Hause konnte
man ihm darauf keine Antwort geben. "Das ist ein Missverständnis",
meint seine Mutter. Er versucht zu verstehen, die Worte zu analysieren. Doch wie
soll ein Elfjähriger verstehen, was heutzutage kaum in den Köpfen Erwachsener
verarbeitet werden kann.
Aharon Appelfeld wählt die Literatur. "Du erzählst und glaubst selbst
nicht, dass dir das passiert ist", schrieb der Autor in seinem Roman
"Die Geschichte eines Lebens", "Das sind die schlimmsten Gefühle,
die ich kenne." In der Bukowina, in
Czernowitz, wo er geboren wurde,
sprachen seine Eltern, assimilierte Juden, Deutsch, seine Großeltern
Jiddisch,
die Amtssprache war Rumänisch, die Umgangssprache Ukrainisch. Und in der
Bukowina ist auch sein Roman "Die Blumen der Finsternis" angesiedelt.
Doch gesprochen wird nur wenig.
Julia, Hugos Mutter, sucht für ihn ein sicheres Versteck, sie plant die Flucht.
Die Lage im Ghetto wird von Tag zu Tag gefährlicher. Juden sind Freiwild. Täglich
finden neue Deportationen statt. Sein Vater Hans ist bereits verschwunden - im
Arbeitslager, sagt man. In einer Nacht- und Nebelaktion bringt Julia ihren Sohn
durch die Kanalisation aus der Stadt. In einem Nachbardorf wird er für lange
Zeit Unterschlupf finden. Mariana - eine Prostituierte - versteckt ihn in der
Abstellkammer ihres Zimmers im Freudenhaus, in dem sie Nacht für Nacht deutsche
Soldaten empfängt. Die sorglose Kindheit hat ein Ende, bevor sie überhaupt
erst richtig begonnen hat.
Hugo lernt, sich still und unauffällig zu verhalten. Sein Überleben hängt
davon ab. Er lernt zu schweigen, lebt dafür in seinen Gedanken. "Hugo
hatte seine Eltern ganz deutlich vor Augen. Die Vergangenheit, die sich vor ihm
verbarg, zog die Hülle von sich und stand vor ihm, von Angesicht zu Angesicht.
(...) Alles was ich sehe, will ich in meinem Herzen bewahren." Die
Erinnerungen an seine Eltern halten ihn am Leben. Doch scheinen auch diese,
durch die verdichtete Zeit in seiner kleinen Zelle, immer mehr zu verblassen.
Eine neue Realität gewinnt mehr und mehr die Oberhand. Geräusche bestimmen
seine Wahrnehmung. Hugo passt sich dem Rhythmus Marianas an. Eine stetige
Zuneigung, ja erotische Beziehung zu dieser einfachen, dem Alkohol verfallenen
Frau, die ihm nicht nur belegte Brote und heiße Milch gibt, sondern ihn in
kalten Nächten in ihr Bett holt, entsteht bei dem adoleszenten Knaben. Zwei
Menschen, die sich nach Liebe und Zuneigung sehnen. Bis auch sie die reale,
kalte Welt einholt.
Der Schriftsteller erklärt heute, dass er sich in seinen Romanen eine dem Traum
und dem Märchen verwandte Ersatzwelt geschaffen habe, besteht aber gleichzeitig
darauf, dass die Wörter nur Tarnung sind und die wahre Sprache das Schweigen
ist. Aharon Appelfeld ist ein schüchterner Erzähler, der immerzu die
verborgenen Erinnerungen in sich selbst sucht. Seine Sprache ist sehr einfach.
Auch "Blumen der Finsternis" zeichnet ein nüchterner und subtiler
Duktus aus, der mehr weglässt, als ausufernd zu sein. Der Autor will seine
Lebensgeschichte nicht in "Kunst" verwandeln.
Die deutsche Übersetzung
durch die versierte Mirjam Pressler bewahrt diesen Stil geschickt.
"Manchmal habe ich das Gefühl, selber eine Märchenfigur zu sein",
sinniert Hugo in seiner Kammer, "Ich hoffe, es ist ein Märchen, das gut
ausgeht." Kann so ein Trauma gut ausgehen?
Trotz allem ist keine Abrechung zwischen den Zeilen zu spüren, keine Anklage. Für
Aharon Appelfeld ist Literatur Erinnerung.
(Heike Geilen; 10/2008)
Aharon
Appelfeld: "Blumen der Finsternis"
(Originaltitel "Pirchej ha-afela")
Deutsch von Mirjam Pressler.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Berlin, 2008. 317 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2010.
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Aharon Appelfeld starb Anfang Jänner 2018 im Alter von fünfundachtzig Jahren.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Elternland"
Israel, in unseren Tagen: Jakob Feins geregeltes Leben nimmt eine Wendung, als
er beschließt, nach Polen zu reisen - in das Land, aus dem seine Eltern
stammen, an den Ort, wo sie den
Holocaust überlebten. Bis zu ihrem Tod hatte
sich Jakob, Familienvater und viel beschäftigter Inhaber eines Modeladens,
nicht für ihre Geschichte interessiert. Als er das abgelegene Dorf erreicht und
die satte grüne, seltsam vertraute Landschaft durchstreift, fühlt er sich den
Eltern zum ersten Mal nah. Und er lernt Magda kennen, eine katholische Bäuerin,
die ihn mit ihren Erzählungen nach und nach in die Vergangenheit zurückführt.
Unerwartet und heftig verlieben sie sich ineinander. Doch je länger Jakob im
Dorf bleibt, desto offener zeigen die Bauern ihre Vorbehalte gegen ihn als
Juden. Ihre Angriffe - und die geballte Faust in seiner Tasche - erinnern ihn
daran, wer er eigentlich ist: ein israelischer Offizier der Reserve, jederzeit
bereit, für sein Leben zu kämpfen. Ein kraftvoller, berührender Roman über
die späte Suche nach der eigenen Herkunft - und die Geschichte einer
unverhofften sinnlichen Liebe. (Rowohlt)
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"Katerina"
Ein ukrainisches Dorf Ende des 19. Jahrhunderts: Das junge Mädchen Katerina
verlässt nach dem Tod seiner Mutter das Elternhaus, in dem es nur Lieblosigkeit
und Gewalt erfahren hat. In der Stadt findet Katerina Arbeit bei einer
jüdischen Familie. Zuerst verachtet sie deren Lebensgewohnheiten, doch mit der
Zeit faszinieren sie jüdische Sprache, Tradition und Religion immer mehr. Als
die Eltern der Familie bei Pogromen ermordet werden, landet Katerina auf der
Straße. Die Nähe zu diesen Menschen - im Hausherrn hatte sie ihre große Liebe
gefunden - hat sie jedoch verändert, ihre eigenen Landsleute sind ihr fremd
geworden. Ziellos irrt sie umher, lebt von Gelegenheitsarbeiten, schläft, wo
sich ein Bett findet. Und dann verliebt sich die junge Frau doch noch einmal: in
Sami, einen Juden, wie sie selbst auf der Suche nach einem Platz im Leben.
Endlich scheint alles gut zu werden. Katerina wird schwanger und ist glücklich
mit ihrem kleinen Benjamin. Aber dann wird ihr Sohn brutal ermordet, und
Katerina will nur eines: Rache.
Ein sprachmächtiger, erschütternder Roman über Liebe und Hass, Schuld und
Sühne - und das gleichnishafte Schicksal einer Frau, die sich nach privatem
Glück sehnt, aber dazu verdammt ist, Chronistin der Geschichte zu sein.
(Rowohlt Berlin)
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"Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen"
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"Auf der Lichtung"
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"Ein Mädchen nicht von dieser Welt"
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"Die Eismine"
In der Bukowina, während des Zweiten Weltkriegs: Erwin und seine Freundin Ida
leben im Ghetto. Als Ida schwanger wird, planen sie die Flucht. Doch Erwin wird
in ein Arbeitslager am Fluss Bug verschleppt, in dessen eiskalten Fluten die
Hoffnung mit jedem Toten ein wenig tiefer sinkt. (Rowohlt)
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