Boris Akunin: "Das Geheimnis der Jadekette"
Fandorin ermittelt
Kurzkrimisammlung
als Hommage
an Größen des Genres
Taugt der Protagonist einer Kriminalroman-Reihe auch für
Krimi-Kurzgeschichten?
Dies mag sich mancher fragen, der die Fandorin-Romane gelesen hat und
nun auf
die deutsche Ausgabe von "Der Geheimnis der Jadekette"
gestoßen ist.
Das Buch enthält sechs Geschichten; die letzte freilich ist
schon vom Umfang
her eher eine Erzählung.
In der titelgebenden Geschichte "Das Geheimnis der Jadekette"
untersucht Fandorin den bestialischen Mord an einem
Antiquitätenhändler.
Offensichtlich ging es dem Einbrecher und Mörder um eine alte
Jadekette.
Fandorin ermittelt im chinesischen Viertel Moskaus, muss jedoch
überrascht
feststellen, dass die Spur in eine völlig unerwartete Richtung
führt.
"Table Talk 1882" beginnt mit einer Salongesellschaft, zu der auch
Erast Fandorin eingeladen ist. Die Gastgeberin konfrontiert ihn mit der
geheimnisvollen Geschichte zweier adliger Mädchen, die von
ihrem Vater seit
Jahren zu einem zurückgezogenen Leben auf dem
ländlichen Familiensitz
gezwungen werden und allmählich einem Los als alte Jungfern
entgegensehen. Als
ein junger französischer Architekt auf dem Gut eintrifft,
entflammen beide
junge Frauen für ihn; seine Affäre mit einer von
ihnen fliegt jedoch auf, er
wird fortgejagt, seine Geliebte eingesperrt - und trotzdem verschwindet
sie
scheinbar spurlos.
Fandorin gelingt es, das Rätsel aus der Ferne zu
lösen.
In "Aus dem Leben der Späne" soll Fandorin einen reichen Erben
vom
Verdacht des Vatermordes reinwaschen. Zwei Angestellte des Ermordeten,
die wie
er vom vergifteten Tee getrunken hatten, starben mit ihm - was einen
aus
Petersburg hinzugezogenen berühmten Ermittler besonders wurmt,
der Reiche und
Adlige hasst. Als Späne, die beim Fällen des Baumes,
des Reichen, anfielen,
scheinen die Angestellten nicht zu zählen.
Fandorin erkennt, dass der Erbe kein Motiv hat, und findet denjenigen,
für den
der Mord offensichtlich Sinn ergibt.
Eine alte, bedrohliche Familienlegende wird in "Die Skarpea der
Baskakows"
Wirklichkeit; wie seit Jahrhunderten vorhergesagt, tötet eine
riesige Schlange
das letzte Familienmitglied.
Dies erscheint dem mit der Ermittlung beauftragten Fandorin nun
freilich ein
wenig zu mystisch.
Der perfekte Mord ist immer der, zu dem kein erkenntliches Motiv
vorliegt. Ein
solcher Mord ist Gegenstand von "Ein Zehntel Prozent". Hier hilft
Fandorin Kommissar Zufall ein wenig auf die Sprünge.
Im Milieu der russischen Altgläubigen spielt die
Erzählung "Vor dem Ende
der Welt". Die Altgläubigen widersetzen sich einer
angeordneten Volkszählung,
bei deren Durchführung Fandorin helfen möchte. Wo
auch immer Fandorin und
seine Begleiter auftauchen, kommt es zu grausamen rituellen
Gruppenselbstmorden.
Offensichtlich hat ein psychopathischer "Gottesnarr" die
Altgläubigen
aufgehetzt. Auf der Jagd nach ihm und zugleich im Zuge ihrer
eigentlichen
Aufgabe eilen Fandorin, sein japanischer Diener und die ihn
begleitende, bunt
zusammengewürfelte Schar durch den russischen Winter von einem
Dorf zum nächsten,
von schrecklichen Nachrichten verfolgt.
So unterschiedlich wie die Themen der Geschichten dieser Sammlung sind
auch
Aufbau und Stil. Dass dies einen Sinn erfüllt, erkennt man an
der vom Autor
vorgenommenen Widmung, die an seine Kollegen
Robert
van Gulik, Edgar
Allen Poe,
Georges
Simenon, Arthur Conan Doyle, Patricia Highsmith und Umberto
Eco geht. Jede der Erzählungen aus "Das Geheimnis
der Jadekette"
ist eine Hommage an einen der genannten Kriminalschriftsteller und
enthält Anklänge
an dessen Werk; so wird man etwa in "Die Skarpea der Baskakows"
unschwer eine gewollte und manchmal sehr detailgenaue Verwandtschaft zu
Arthur
Conan Doyles
"Der
Hund der Baskervilles" erkennen. Die weiteren
Parallelen wird jeder Krimifreund rasch selbst herausfinden.
Als Epigone betätigt sich Akunin jedoch nicht. Seine
großartige Fähigkeit,
das Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit Fandorin und seinen
Fällen
lebendig werden zu lassen, bestätigt sich in dieser
Geschichtensammlung wieder
einmal. Trotz der ausgeprägten Anklänge an die
genannten Vorbilder ist jede
einzelne Geschichte originell erdacht und ein echtes Unikat. Wie
gewohnt hat
Akunin seine Geschichten streng logisch aufgebaut und mit
authentischen,
interessanten Charakteren besetzt.
Einzig die letzte Erzählung, jene, die auf Eco anspielt, passt
nicht ganz ins
Bild. Manchem Leser dürfte sie zu langatmig sein, und auch die
Selbstmordserie
mitsamt der Auflösung erscheint, selbst wenn man den strengen,
Märtyrertum
nicht abgeneigten Glauben der Altgläubigen als Grundlage
akzeptiert, doch etwas
weit hergeholt. (Was nun freilich auch ganz gut zu Eco passt.)
Dafür bietet sie
von allen sechs Geschichten die dichteste Atmosphäre, und wer
es mystisch mag,
wird sie genießen. "Vor dem Ende der Welt" entfernt sich
jedenfalls
am weitesten von Akunins üblichem Stil und Konzept.
Insgesamt ist das Buch durchaus sehr lesenswert. Fandorin-Fans werden
feststellen, dass der Protagonist sich trotz Akunins Ausflüge
in Aufbau und
Stil anderer Größen des Genres treu bleibt. Spannung
gibt es reichlich, sie
lahmt, wie erwähnt, nur in der letzten Erzählung
gelegentlich ein wenig. Der
"historische
Lokalkolorit" und viele überraschende Wendungen
sind
ebenfalls vorhanden.
Wer den unkonventionellen Ermittler Fandorin nicht kennt, findet mit
diesem Buch
möglicherweise einen idealen "Appetitmacher" und
lässt sich zum
Lesen der Fandorin-Romane
anregen.
Kurz: "Das Geheimnis der Jadekette" bietet fast durchgehend packende
Unterhaltung und viel Atmosphäre aus dem zaristischen Russland.
(Regina Károlyi; 09/2008)
Boris
Akunin: "Das Geheimnis der
Jadekette. Fandorin ermittelt. Kriminalerzählungen"
Aus dem Russischen von: Renate Reschke, Thomas Reschke.
Aufbau Taschenbuch Verlag, 2008. 363 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors: Grigori
Tschtschartischwili
"Schöner als der Tod. Friedhofsgeschichten"
Friedhöfe bergen das Geheimnis der Zeit, die vor uns war, und
flüstern von
der Zeit, die nach uns kommt. Sie sind die Herzstücke
pulsierender Metropolen
und das Gedächtnis altehrwürdiger Städte -
und nur wer ihre Toten besucht,
kann die Seele einer Stadt verstehen. Boris Akunin macht sich in diesem
Buch auf
zu einem Streifzug durch sechs Friedhöfe in sechs
verschiedenen Ländern,
altehrwürdige Orte allesamt: Den Alten Donskoje in Moskau, den
High Gate
Friedhof in London, Père Lachaise in Paris, Greenwood in New
York, den Friedhof
für Ausländer in Yokohama und den Jüdischen
Friedhof in Jerusalem. Entstanden
sind sechs großartige Erzählungen von
Städten, Ländern und Orten der Ruhe,
die gleichsam spannend, manchmal sogar witzig und immer ein Lesegenuss
sind.
(Goldmann)
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