Olivier Adam: "Klippen"


Eine Kindheit unter Tonnen von Sand begraben
Olivier Adams großartig atmosphärischer Roman "Klippen"


"Hier ist die Nacht, tief und Schwarz wie die Welt." Mit diesen Worten beginnt Olivier Adam seinen kleinen Roman.
"Ich zünde im Dunkeln Kerzen an. (...) Seit zwanzig Jahren ist meine Mutter tot. Zwanzig Jahre Tag für Tag. (...) Ich bin einunddreißig, und mein Leben beginnt. Ich habe keine Kindheit, und von jetzt an ist mir jede recht. Meine Mutter ist tot, und die Meinen sind alle weg. Das Leben hat bei mir reinen Tisch gemacht, Claire und ich nehmen daran Platz (...) und so beginnt, in der Meeresnacht verloren, mein Leben ..."
Düstere Worte, aber trotzdem - wenn auch nur flackernd, wie die Kerzen im Wind - mit einem kleinen Hoffnungsfunken.

Der Mann, der in dieser dunklen Nacht über sein Leben sinniert, "ich bin eine schwarze Nacht, ein Klippenrand, ein ertrunkenes Leben, schwindelfrei und mit Blick ins Leere" - im Rücken seine schlafende Frau Claire und seine zweijährige Tochter Chloé - ist der Ich-Erzähler Olivier. Er ist mit seiner Familie an den Ort einer familiären Tragödie zurückgekehrt, die sein bisheriges Leben gezeichnet hat. Seine Mutter stürzte sich vor zwanzig Jahren von den vom Balkon seiner Ferienwohnung aus zu sehenden Klippen Étretats in den Tod.
Die ganze Nacht wird er wach sein, später denselben Weg gehen, den seine Mutter ging. Erinnerungen und dunkle Stellen in seinem Lebenslauf werden ihn quälen; Lücken, die er nicht zu füllen mag. Doch er ist fest entschlossen, Licht in seine Vergangenheit zu bringen.

Das Drama seiner Familie begann mit den psychischen Problemen seiner Mutter, einer zerbrechlich zarten Frau. "An die Zeit davor habe ich keine Erinnerungen. Weder an meine Mutter noch an mich selbst. Von meiner Geburt bis zu meiner ersten Erinnerung sind neun Jahre verstrichen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und bis zu Mamans Tod ist alles verschwommen und unartikuliert. Manchmal frage ich mich, ob sich alles, was ich vergessen habe, irgendwo eingenistet hat. Ob all die Ereignisse, Wörter, Gefühle und gesammelten Gesten einen Teil von mir ausmachen, eine Art Fundament für mich bilden, oder ob ich auf dem Nichts, auf einem wegsackendem Boden aufgewachsen bin."
Verschwommen ist auch sein Leben danach, ohne Kontur und Rahmen. Hunderte unbeantwortete Fragen nach dem Warum der Verzweiflungstat seiner Mutter spuken pausenlos durch seine Träume, er hat Halluzinationen.

Vom Dunkeln ins Licht
Das Zusammenleben mit dem Vater entwickelt sich nach dem Tod der Mutter immer mehr zur Farce, ist durch seelische und körperliche Gewalt gekennzeichnet und wirkt wie das Eintauchen in eine tiefe schwarze Nacht. Es scheint, als wären seinem Vater mit dem Tod der Frau jegliche Gefühle für seine Söhne, (Olivier hat noch einen zwei Jahre älteren Bruder, Antoine), abhanden gekommen. Er quält sie mit Sprechverbot und ahndet kleinste Vergehen mit unglaublicher Brutalität.

Beide Brüder klammern sich beinahe verzweifelt in ihrer kindlichen Hilflosigkeit aneinander. Einziger Bezugspunkt ist eine jugendliche Clique aus ebenso unsanft gestrandeten Kindern, die ihrem trübsinnigen Leben durch Sex, Drogen und Alkoholexzesse zu entfliehen versuchen, jedoch in Wahrheit immer tiefer in schwere Depressionen verfallen, magersüchtig werden oder sich gar eine Kugel in den Kopf jagen.

Als Antoine mit neunzehn Jahren in einer Nacht- und Nebelaktion das elterliche Haus und seinen Bruder verlässt, gibt es auch für Olivier kein Halten mehr. Ihn verschlägt es nach Paris. Doch sein psychischer und physischer Abstieg setzt sich rapide fort. Auch Léa, eine ebenso zerbrechliche seelisch angeschlagene Person wie seine Mutter, an die er sich mit vehementer Kraft klammert, rettet ihn nicht. Ihr Selbstmord wirft ihn endgültig aus der Bahn.
Erst die Liebe zu Claire, die unerschütterlich an ihn glaubt, und ihre gemeinsame Tochter Chloé ziehen ihn aus dem Tal der Dunkelheit: "Millionen erhellter Fenster in den Fassaden, Scheinwerfer in der Nacht ..."

Der Roman endet mit den ersten Morgenstunden. Olivier scheint mit sich im Reinen, doch ob er die Zukunft, den schweren Berg des Vergessens und Verzeihens bewältigen wird, das bleibt offen. Der Tonfall seines letzten Satzes lässt jedoch das zarte Pflänzchen Hoffnung keimen: "Wenn ich aufwache, wenn ich die Augen, die Vorhänge öffne, wird alles ruhig sein und leuchten." Die Dunkelheit scheint besiegt.

Lückenhafter Fluss der Erinnerungen
Der Ich-Erzähler Olivier berichtet in einem lückenhaften Fluss der Erinnerungen über die Bemühungen, seine im Dunkeln verborgene Kindheit aus dem sandigen Grund herauszulösen. Dabei ist es Adams schriftstellerischem Talent zu verdanken, (das Buch stand 2005 auf der Liste der vier Finalisten für den "Prix Goncourt", den bekanntesten Literaturpreis Frankreichs), dass dieser Roman in den Augen des Lesers nicht nur als enttäuschende Ansammlung von Fakten scheint.

Der Autor schreibt äußerst feinfühlig, mit Intelligenz und ohne rührselige Dramatisierung über die Themen Kindheit, Jugend, Familie, Liebe, Erinnerung und die Grausamkeit, aber auch die Schönheit der menschlichen Existenz.
Natürlich ist man versucht, die Parallelen zwischen der Existenz des schriftstellernden Erzählers und des Autors als Autobiografie zu deuten. Name und Alter sind identisch. Doch diese Frage sollte nicht im Mittelpunkt dieses Buches stehen.
"Klippen" ist ein mit großer Zärtlichkeit erzählender Roman über Schmerzen und Gewalt, aber auch die Hoffnung. Immer wieder setzt der Autor lichte Stellen in seine düstere Beschreibung; fügt nach menschlichen Tragödien Passagen ein, in denen der Erzähler seine schlafende Frau und Tochter bewundert.

Auffällig ist die einfache, aber wunderschöne Diktion dieses Buches. Mit kurzen schnörkellosen Sätzen, einem beinahe puristischen Stil, skizziert der Autor seine Figuren. Eine einfache Linie, ein Strich genügt zur Beschreibung einer Situation von ungeheurer Dramatik. Vor dem inneren Auge des Lesers entstehen Bilder, Porträts und Landschaften, die man fast atmen und schmecken kann; Wörter voll Luft und Gischt, nassem Gras und feuchter Erde, Wind und Salz. Und immer wieder das Meer (eine Metapher für seine tote Mutter?) und die Klippen.

Fazit:
Ein großartiges Buch, das den Leser wie eine heftige Welle erschüttert, gerade durch seine Menschlichkeit und seine ungebrochene Hymne an das Leben.

(Heike Geilen; 04/2008)


Olivier Adam: "Klippen"
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.
SchirmerGraf Verlag, 2008. 240 Seiten.
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Olivier Adam, geboren 1974 in einem Vorort von Paris, hat bisher vier Romane, drei Jugendbücher und den mit dem "Prix Goncourt de la nouvelle" ausgezeichneten Erzählungsband "Passer l’hiver" ("Am Ende des Winters", erschienen 2004 bei SchirmerGraf) veröffentlicht. Er war Koautor des Filmdrehbuchs "Keine Sorge, mir geht’s gut". Bei SchirmerGraf erschien außerdem sein Roman "Leichtgewicht":

"Am Ende des Winters"
Ein junger Vater, der in namenlose Traurigkeit versinkt, weil er zufällig am Bildschirm vom Tod eines Fernsehstars seiner Kindheit erfährt; ein Taxifahrer, der eine einsame Japanerin durch eine Pariser Winternacht fährt; eine Säuglingsschwester, die zusammen mit ihrem Freund über den Verlust des eigenen Kindes hinwegzukommen versucht; die Verkäuferin in einer Tankstelle, die in der Neujahrsnacht mit einem Unbekannten bis zum Meer fährt und dort einen Hauch von Liebe erlebt.
Es ist der zarte Lichtstreif am Horizont, das Streicheln über den Kopf eines schlafenden Kindes, der vage Traum vom Familienglück, der diesen Geschichten ihre einzigartige Emotionalität und Wehmut und Wärme verleiht. Ihre Helden stehen nicht am Rande der Gesellschaft, sondern mittendrin, sie ahnen, dass es so etwas wie Glück gibt, aber auch, wie flüchtig und zerbrechlich es ist.
Ohne jeden Zynismus, aber auch ohne jedes falsche Mitgefühl beobachtet Olivier Adam  Menschen, die in einer nächtlichen Stadt unterwegs sind und an das Ende des Winters glauben. Jedem einzelnen von ihnen verleiht er eine zarte, unüberhörbare Stimme. (SchirmerGraf)
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"Leichtgewicht"
"Das heutige Begräbnis war ein kleiner Junge, und das war unerträglich, ich habe mir in die Wangen gebissen bis es weh tat. Ich konnte meinen Blick nicht von seiner kleinen Schwester abwenden, sie war so blass." Antoine arbeitet bei einem Beerdigungsunternehmen: nicht gerade die ideale Beschäftigung für jemanden, den die Trauer über den Verlust der eigenen Familie auffrisst. Abends steigt er in den Boxring, um sich für das nächste Match vorzubereiten, denn Chef, sein Trainer, ist der Einzige, dem er noch etwas beweisen will. Bei jedem Schlag gegen den Sandsack sind sie wieder da, die Bilder von dem Haus im Süden, von den Steinen, der Sonne, den Platanen, dort, wo Antoine aufgewachsen ist, wo er mit seiner Schwester Claire Verstecken spielte, wo der Vater neapolitanische Lieder sang, wenn er von der Schicht nach Hause kam. Doch nun: Erde schaufeln, Tränen schlucken, Bier trinken, viel Bier, das Neonlicht glänzt in den Pfützen der Pariser Vorstadt, und Claire heiratet einen Mann, der so verdammt nett und anständig ist ... Nach dem letzten Match steigt Antoine in den Zug nach Süden. Er trifft dort ein Mädchen, das ähnlich rötliches Haar und eine sommersprossige Haut hat wie Claire ... (SchirmerGraf)
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"An den Rändern der Welt"
Paul sucht seinen inneren Frieden in der Bretagne, am Meer, und findet ihn ausgerechnet an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist und den er verabscheut: der Banlieue. Mit ungewöhnlicher Sensibilität spürt Olivier Adam der Zerbrechlichkeit der Existenz nach.
Als Paul mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in die Bretagne zieht, erhofft er sich einen Neuanfang. Weg von den trüben Gedanken, die ihm das Leben schwer machen. Und wirklich, das Meer gibt ihm Kraft, lässt ihn atmen, endlich fühlt er sich gelöst - bis seine Frau sich von ihm trennt. Ausgerechnet da erhält er einen Anruf seines Bruders, er solle nach Hause kommen, sich um die Eltern kümmern, die seine Hilfe brauchen. Eher unfreiwillig begibt er sich an den Ort seiner Kindheit zurück, den er stets gemieden hat. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, die bei ihm mehr auslöst, als er je zu hoffen gewagt hätte. (Klett-Cotta)
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