Andreas Pflitsch, Manuel Gogos (Hrsg.): "1968"
Kurzer Sommer - lange Wirkung
Von
Ho und Janis
'Ein literarisches Lesebuch' (Untertitel) mit einem Überblick
über 40 Jahre
Aufarbeitung dieser zum Mythos gewordenen Zeit durch Autoren
unterschiedlicher
Generationen mit involvierter oder distanzierter Perspektive. Der
Wandel in der
Beurteilung der 68er kann mit Amüsement, Bedauern oder einem
gelinden Sarkasmus
empfunden werden - die Autoren repräsentieren jedenfalls das
Bild in der
Gesamtbevölkerung. An der Frage, wie wesentlich die 68er
für die Entwicklung
der BRD tatsächlich waren, entbrennen seit damals mehr oder
weniger
leidenschaftliche Dispute. Interessant ist jedenfalls, dass es in
Frankfurt/Main
parallel zum Erscheinen dieses Buches eine Ausstellung gleichen Titels
im
Historischen Museum gibt, für welche Gogos als Co-Kurator
fungiert.
Brisanz erhält ein literarischer Rückblick ja auch
dadurch, dass im Jahr 1968
die Literatur für tot erklärt wurde. Die eigentlich
offiziell letzte Tagung
der 'Gruppe 47' war 1967 in der Pulvermühle von Studenten
gestört worden, die
eine Rückkehr der Literatur zur klassenkämpferischen
Position und eine
Resolution gegen den Springer-Konzern forderten.
Carl Améry
hatte das später
bedichtet: "Die Wilden hatten die Brücke gequert /
Mit megaphonen
Parolen / Sie hatten die Literatur gestört."
Peter
Handke etwa sah die
politische Aufgabe der Literatur darin, die "Dramaturgie des
herrschenden Systems" und die manipulative
Künstlichkeit der Sprache
erkennbar zu machen.
Hans Magnus Enzensberger verkündete: "Die
Literaten feiern das Ende der Literatur. Die Poeten beweisen sich und
anderen
die Unmöglichkeit, Poesie zu machen." Das Misstrauen
gegen die
"Belletristik" war Programm - experimentelle Texte und
Industriereportagen rückten in den Vordergrund, ebenso
Agitprop-Songs, Straßentheater
und Underground-Mags.
Die politisierten 68er absolvierten eine ungeheure
Lektüreleistung aller
Revolutionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts, um das Establishment
zu
attackieren. Die Ressentiments der 68er wandten sich gegen den
"bürgerlichen"
Roman. In der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen
Vätergeneration
wird die Avantgarde aggressiv. Pflitsch/Gogos meinen in ihrem Nachwort,
die
vorliegende Anthologie wolle nicht der "im Zeichen des
revolutionären
Imperativs stehenden Literatur ... nachgeben", denn das "mimetische
(Nach-)Erzählen ... hat längst wieder an Terrain
gewonnen." Und so könne
"im Prozess der Verbürgerlichung der 68er"
der "Marsch
durch die Institutionen ... retrospektiv ... doch als Bildungsroman
gelesen
werden." Freilich ist ein "Streit um die Deutungshoheit" der
68er im Gange - zwischen Nostalgie und Polemik bricht sich die
Verballhornung
durch die Folgegenerationen Bahn - bis hin zum puren
Unverständnis, zum plumpen
Ignorieren. Die "oft unfreiwillige Komik damaliger
Weltverbesserungsenthusiasten" und "APO-Opas" tritt in der
jüngeren
Pop-Literatur zutage. Die "verspätete intellektuelle
Nachgründung der
BRD" war ebenso spektakulär wie profan - und das Spannungsfeld
'Protest -
Spießertum' wird immer wieder neu ausgeleuchtet werden
müssen.
Die von F.C. Delius sogenannte "Geisterbahn der Erinnerung"
führt
uns quasi in den versammelten Textauszügen von der
Auseinandersetzung mit den
Nazi-Vätern bis zur Auseinandersetzung mit den
68er-Vätern. Da entdeckt man
eine "einzige große Beschissenheit" (R.D.
Brinkmann, 'Keiner
weiß mehr') - und alles wird zu einer "Geschichte,
aus Resten erzählt,
die Reste passend gemacht" (ebd.).
Wolf Wondratschek wird
zynisch: "Eines
der lustigsten Wörter der deutschen Sprache ist das Wort
'Revolution' (...) In
Zukunft will Deutschland keine Vergangenheit mehr haben"
('Früher
begann der Tag mit einer Schußwunde').
In der nachrückenden Generation beschwört Sophie
Dannenberg ironisch 'Das
bleiche Herz der Revolution', indem sie von Eltern erzählt,
die ihren Bruder
"Benno" genannt hatten: "er war ein Denkmal, aber nicht aus
Stein, sondern aus Fleisch, und immer, wenn meine Eltern ihn riefen,
riefen sie
nach der Revolution." Man könnte ja auch die Frage
stellen: wussten
die Eltern damals, was sie ihren Kindern antaten, als sie diese Ho,
Janis,
Che
und Benno nannten?
Günter Grass hat in seinem 'Tagebuch einer
Schnecke'
unbarmherzig analysiert, wer sich damals alles die "Große
Weigerung" von Herbert Marcuse zur Losung gemacht hatte, wie sich Melancholie und
Utopie
paarten - und wie sich "die Bewegung ... reduzierte":
"Die
radikale Minderheit spielte noch einmal alle
Spaltungsmöglichkeiten des
Sozialismus durch." Peter Schneider hatte das in
seinem
'Lenz' so
formuliert: "er fragte sich, ob er wirklich um eine
Erkenntnis reicher
oder nur um diese Wut ärmer geworden sei."
Die Selbstbefragung ist immer noch authentischer als jegliche
Kolportage. In
diesem Sinne verfährt Gerhard Seyfried in seinem Roman
'Der
schwarze Stern der
Tupamaros', wo die Ereignisse aufgeführt werden: "Alles
68, volles
Programm!" Freilich thematisierte F.C. Delius quasi
selbstkritisch die
Wirksamkeit z.B. einer Demo gegen den Vietnam-Krieg in Berlin - ging es
dabei
nur darum, sein Gewissen zu beruhigen? (vgl. 'Amerikahaus'). Was war
das
damalige Engagement wert?! Für damals? Für heute! Wie
zu erwarten, präsentiert
die Literatur keine perfekten Antworten, sie formuliert die
nötigen Fragen aus
unterschiedlichen Perspektiven. Eines sollte aus der Zusammenstellung
bzw. aus
der Lektüre dieser Anthologie klar werden: wir
bräuchten dringend ein neues
"68" - welche nächstliegende Jahreszahl wäre denn als
Chiffre für
einen neuerlichen politischen Aufbruchsversuch geeignet?!
(KS; 06/2008)
Andreas
Pflitsch, Manuel Gogos (Hrsg.): "1968. Kurzer Sommer - lange Wirkung"
dtv, 2008. 384 Seiten.
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Eine
weitere
Lektüreempfehlung:
Oskar Negt: "Achtundsechzig. Politische
Intellektuelle und die Macht"
Negts Buch, erschienen 1995, ist noch immer aktuell - nein, viel mehr:
Es ist
zum Klassiker geworden. Oskar Negt sucht geduldig nach den verzweigten
Wirkungen
von Achtundsechzig, folgt den Spuren der politischen Intellektuellen
und ihren
Antriebskräften. Als Begleiter der Protestbewegung bewahrt er
die nötige
Distanz, aus der heraus er sie zugleich kritisch befragt und
leidenschaftlich
verteidigt. (Steidl)
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