Ebbe - Bhata
Das Gezeitenland
Sie fiel Kanai sofort auf, als er den überfüllten Bahnsteig betrat. Ihr kurz
geschorenes schwarzes Haar und ihre Jungenkleider - weite Baumwollhosen und
ein zu großes weißes Hemd - konnten ihn nicht täuschen. Sein Blick drang zielsicher
durch das Gewimmel der Händler und blieb auf ihrer schlanken, wohlgeformten
Gestalt haften. Ihr Gesicht war lang und schmal und bildete mit seinen anmutigen
Zügen einen auffallenden Gegensatz zu ihrer strengen Frisur. Sie trug kein bindi
auf der Stirn und keine Armreife; ihr einziger Schmuck war ein silberner Ohrstecker,
der auf ihrer dunklen, von der Sonne gebräunten Haut glitzerte.
Kanai hielt sich für einen Kenner, der Frauen ebenso zu bewundern wie zu beurteilen
vermochte, und ihre Haltung, die ungewohnte Art, wie sie dastand, weckte seine
Neugier. Vielleicht, dachte er plötzlich, war sie trotz des Ohrsteckers und
ihres dunklen Teints gar keine Inderin, sondern nur indischer Abstammung. Und
als ihm dieser Gedanke kam, war er sich auch schon sicher: Sie war Ausländerin,
das sah man daran, wie sie, die Füße ein Stück auseinander, gleich einem Fliegengewichtsboxer
auf den Fersen balancierte. In einer Gruppe von Studentinnen in Kolkatas Park
Street hätte sie vielleicht nicht ganz so deplatziert gewirkt, aber hier, vor
dem rußigen Hintergrund des Vorortbahnhofs von Dhakuria, mutete ihre gefällige
androgyne Erscheinung geradezu exotisch an.
Warum wartete eine Ausländerin, eine junge Frau, auf einem Vorortbahnhof im
Süden von Kolkata auf den Zug nach Canning? Die Strecke war zwar die einzige
Bahnverbindung in die Sundarbans, doch soviel Kanai wusste, wurde sie von Touristen
nie benutzt; die wenigen, die dorthin wollten, reisten gewöhnlich per Schiff,
mit einem Dampfboot oder einer Barkasse, die sie im Hafenviertel von Kolkata
mieteten. Der Zug diente hauptsächlich den daily-passengeri, den Pendlern aus
abgelegenen Dörfern, die zur Arbeit in die Stadt mussten.
Als Kanai sah, dass die Ausländerin sich mit einer Frage an einen Mann wandte,
überkam ihn das Bedürfnis mitzuhören. Sprache war sowohl sein Lebensunterhalt
als auch seine Leidenschaft, und oft packte ihn an öffentlichen Orten ein fast
unwiderstehlicher Drang, Gespräche zu belauschen. Er schob sich durch die Menge
und gelangte gerade noch in Hörweite, als sie einen Satz mit den Worten "Zug
nach Canning?" beendete. Einer der Umstehenden begann zu erklären und mit hochgerecktem
Arm zu gestikulieren, aber er sprach Bengali, und sie verstand ihn nicht. Sie
hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten, und sagte, sie könne kein Bengali:
"Ami Bangla jani na." Ihre unbeholfene Aussprache verriet Kanai, dass es tatsächlich
so war: Wie alle Ausländer hatte sie gerade genug von der Sprache gelernt, um
ihre Unkenntnis ausdrücken zu können.
Kanai war der einzige andere "Outsider" auf dem Bahnsteig, und schnell zog auch
er die Aufmerksamkeit auf sich. Er war zweiundvierzig, mittelgroß, und sein
noch dichtes Haar war an den Schläfen von ersten grauen Strähnen durchzogen.
Die Art, wie er mit schräg geneigtem Kopf breitbeinig dastand, verriet einen
wohlbegründeten Glauben an seine Fähigkeit, sich in fast jeder Situation zurechtzufinden.
Von seinen Augenwinkeln strahlten feine Linien aus, die aber sein sonst glattes
Gesicht nur noch lebendiger erscheinen ließen und eher seine Jugendlichkeit
als sein Alter betonten. Einst schlank und zierlich, hatte er mit den Jahren
um die Taille herum zugenommen, aber er bewegte sich noch immer geschmeidig
und mit einer Behändigkeit, die dem Instinkt des Reisenden für das Leben im
Augenblick entspringt.
Kanai hatte einen Koffer mit ausziehbarem Griff und dem Aufdruck einer Fluggesellschaft
bei sich, und für die Menschen, die auf dem Bahnsteig ihre Waren feilboten,
war dieses Gepäckstück - neben seiner Sonnenbrille, den Cordhosen und seinen
Wildlederschuhen - nur eine der vielen Einzelheiten seiner Erscheinung, die
auf den Wohlstand eines Mannes in mittleren Jahren und auf weltstädtischen Luxus
hindeuteten. Er wurde daher regelrecht belagert, von fliegenden Händlern, Gassenjungen
und Gruppen von Jugendlichen, die Spenden für diverse Zwecke sammelten. Erst
als der grün-gelbe Zug einfuhr, konnte er endlich sein aufdringliches Gefolge
abschütteln.
So wie sie in den Zug stieg, stellte er fest, schien die Ausländerin eine nicht
unerfahrene Reisende zu sein: Sie schob das halbe Dutzend Gepäckträger, das
sie umschwirrte, beiseite und hievte die beiden riesigen Rucksäcke eigenhändig
hoch, mit einer Kraft, die in krassem Gegensatz zu ihrer kleinen, schmalen Gestalt
stand. Mit geübter Leichtigkeit schwang sie die Gepäckstücke ins Abteil und
bahnte sich ihren Weg durch das Gewühl der Reisenden. Kanai überlegte kurz,
ob er ihr sagen sollte, dass es ein eigenes Abteil für Frauen gab, aber da war
sie schon verschwunden, und er verlor sie aus den Augen.
Dann ertönte ein Pfiff, und Kanai kämpfte sich ebenfalls durch die Menge. Beim
Einsteigen erspähte er einen freien Platz und ließ sich dort nieder. Er wollte
während der Fahrt lesen, doch als er seine Papiere aus dem Koffer nahm, merkte
er, dass der Platz, den er gefunden hatte, nicht ganz geeignet war. Es war nicht
hell genug, und rechts von ihm saß eine Frau mit einem strampelnden Baby. Er
würde sich kaum konzentrieren können, wenn er ständig zwei kleine Fäuste abwehren
musste. Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass der Platz links
von ihm, am Fenster, besser wäre. Das Problem war nur, dass er von einem Mann
besetzt war, der in einer bengalischen Zeitung las. Kanai taxierte ihn kurz:
ein älterer, zurückhaltend wirkender Mensch, der sich möglicherweise überreden
ließe.
"Aré moshai, darf ich Sie etwas fragen?" Lächelnd richtete er all seine Überzeugungskraft
auf seinen Nachbarn. "Würden Sie wohl Ihren Platz mit mir tauschen, wenn es
Ihnen nicht allzu viel ausmacht? Ich habe eine Menge Arbeit, und am Fenster
ist das Licht besser."
Der Zeitungsleser sah ihn mit großen, erstaunten Augen an, und einen Moment
lang schien es, als wollte er protestieren oder sich gar weigern. Doch nach
einem Blick auf Kanais Kleidung und seine sonstige Erscheinung überlegte er
es sich anders: Neben ihm saß ganz offensichtlich ein Mann von Einfluss, der
womöglich auf vertrautem Fuße mit Polizeibeamten, Politikern und anderen wichtigen
Leuten stand. Wozu Probleme heraufbeschwören? Würdevoll gab er nach und machte
den Fensterplatz für Kanai frei.
Kanai freute sich, dass er sein Ziel so mühelos erreicht hatte. Er nickte dem
Zeitungsleser dankbar zu und nahm sich vor, eine Tasse Tee für ihn zu kaufen,
wenn das nächste Mal ein cha’ala ans Fenster kam. Dann holte er einige eng in
Bengali bedruckte Seiten aus der Außentasche seines Koffers, strich sie auf
seinen Knien glatt und begann zu lesen.
In unseren Mythen heißt es,
dass sich die Erde gespalten hätte, als die Göttin Ganga vom Himmel niederstieg,
hätte nicht Schiwa die gewaltigen Wassermassen in seine mit Asche bestreuten
Locken geflochten und sie so gebändigt. Hört man diese Legende, sieht man den
Fluss auf besondere Art: als einen himmlischen Zopf etwa, ein gewaltiges Seil
aus Wasser, das sich über eine weite, durstige Ebene entrollt. Dass die Geschichte
noch eine weitere Wendung nimmt, offenbart sich erst, wenn der Fluss die letzten
Etappen seiner Reise erreicht - und dieser Teil der Überlieferung überrascht
immer aufs Neue, weil er nie erzählt und daher nie vergegenwärtigt wird. Er
lautet so: An einer bestimmten Stelle löst das Wasser Schiwas verfilztes Haar
zu einem großen verknäulten Gewirr. Hat der Fluss diese Stelle passiert, wirft
er seine Bande ab und verzweigt sich in Hunderte, vielleicht Tausende verschlungener
Strähnen.
Wer es nicht selbst gesehen hat, vermag kaum zu glauben, dass hier, zwischen
dem Meer und den Ebenen Bengalens, ein riesiger Archipel liegt. Und doch ist
es so: ein Archipel, der sich über fast dreihundert Kilometer vom Hooghly in
Westbengalen bis an die Mündung des Meghna in Bangladesch erstreckt.
Die Inseln sind die losen Fäden von Indiens Stoff, das ausgefranste Ende von
Indiens Sari, der achol, der Indien folgt, halb vom Meer durchnässt. Sie gehen
in die Tausende, diese Inseln; manche sind riesig, andere nicht größer als eine
Sandbank, manche gibt es schon, seit Geschichte geschrieben wird, andere wurden
erst vor ein paar Jahren aufgespült. Die Inseln sind die Wiedergutmachung der
Flüsse, sie sind die Opfer, mit denen diese Flüsse dem Land zurückgeben, was
sie ihm genommen haben, auch wenn sie sich die Herrschaft über das Geschenk
für immer vorbehalten. Ihre Seitenarme überziehen das Land wie ein engmaschiges
Netz und schaffen ein Gebiet, in dem sich die Grenzen zwischen Land und Wasser
fortwährend verschieben, niemals vorherzusehen sind. Einige der Flüsse sind
mächtige Wasserstraßen, so breit, dass man nicht bis ans andere Ufer sehen kann,
andere sind nicht mehr als zwei oder drei Kilometer lang und nur wenige hundert
Meter breit. Doch jeder dieser Wasserläufe ist ein "Fluss" für sich, jeder hat
seinen eigenen, seltsam sprechenden Namen. Da gibt es den Jahajphoron, den Schiffezerschmetterer,
den Tarobaki mit seinen dreizehn Biegungen und viele, viele andere mehr. Wenn
diese Wasserläufe sich vereinen, dann oft zu vieren, fünfen oder gar zu sechsen:
An ihrem Zusammenfluss dehnt sich das Wasser bis an die fernen Ränder der Landschaft,
und der Wald schrumpft zum bloßen Echo des Landes, das vom Horizont widerhallt.
In der Sprache der Gegend heißt solch ein Zusammenfluss mohona - ein seltsam
betörendes, in viele Schichten der Verlockung gehülltes Wort.
Es gibt hier keine klaren Grenzen zwischen Süß- und Salzwasser, zwischen Fluss
und Meer. Die Flut dringt dreihundert Kilometer landeinwärts vor, und jeden
Tag verschwinden Tausende Morgen Wald im Wasser und tauchen Stunden später wieder
auf. Die Strömungen sind so stark, dass sie die Inseln fast täglich umgestalten
- mitunter reißt das Wasser ganze Vorgebirge und Halbinseln weg, dann wieder
wirft es neue Schelfe und Sandbänke auf, wo vorher keine waren.
Wo die Gezeiten neues Land entstehen lassen, wächst über Nacht Mangrove, die
solch eine neue Insel unter günstigen Bedingungen innerhalb weniger Jahre vollständig
bedecken kann. Ein Mangrovenwald ist eine Welt für sich, völlig anders als andere
Waldgebiete oder Dschungel. Es gibt dort keine hoch aufragenden, mit Kletterpflanzen
berankten Bäume, keine Farne, keine Wildblumen, keine schnatternden Affen
und Kakadus. Mangrovenblätter sind zäh und ledrig, die Äste knorrig, das Laub
oft undurchdringlich dicht. Die Sicht im Mangrovenwald ist eingeschränkt, die
Luft reglos und übel riechend. Ein Mensch bleibt keinen Moment im Zweifel darüber,
wie feindselig ihm ein solcher Wald gegenübersteht, wie raffiniert und einfallsreich
er ist, wie fest entschlossen, ihn zu vernichten oder zu vertreiben. Jedes Jahr
fallen in der Umarmung seines dichten Laubes Dutzende von Menschen Tigern, Schlangen
und Krokodilen zum Opfer.
Es gibt hier nichts Liebliches, was den Fremden einladen würde, und doch ist
der Archipel unter dem Namen Sundarbans bekannt, was wörtlich "der schöne Wald"
heißt. Manche glauben, der Name leite sich von einer verbreiteten Mangrovenart
her, dem Sundari-Baum, Heritiera minor. Doch der Ursprung des Wortes lässt sich
ebenso wenig erklären wie seine heutige Verbreitung, denn in den Registern der
Moguln wird diese Region nicht nach einem Baum, sondern nach den Gezeiten benannt.
Und die Bewohner der Inseln nennen das Land bhatir desh - Gezeitenland -, allerdings
bedeutet bhati nicht einfach Gezeiten, sondern eben speziell eine der Gezeiten:
die Ebbe, bhata. Bei Flut steht das Gebiet halb unter Wasser; erst wenn das
Wasser wieder fällt, gebiert es den Wald. Beim Anblick dieser seltsamen Niederkunft,
deren Geburtshelfer der
Mond ist, weiß man,
warum der Name Gezeitenland nicht nur treffend, sondern geradezu notwendig ist.
Denn es ist wie mit
Rilkes Kätzchen,
die an der leeren Hasel hängen, wie mit dem Regen, der im Frühjahr auf dunkles
Erdreich fällt, wenn wir die sinkende Flut sehen:
Und wir, die an steigendes Glück
denken, empfänden die Rührung,
die uns beinah bestürzt,
wenn ein Glückliches fällt.
Eine Einladung
Etwa zwanzig Minuten hinter Kolkata, als der Zug gerade hielt, bescherte ein
unerwarteter Glücksfall Piya einen Fensterplatz. Sie saß im stickigsten Winkel
des Abteils, am Rand einer Bank, um sich herum ihre Rucksäcke. Der Zug war brechend
voll und würde es bis Canning wohl auch bleiben. Als sie jetzt ans Fenster trat,
sah sie, dass er in einem Bahnhof namens Champahati stand. Der Bahnsteig fiel
zu einem dichten Gewirr von Hütten hin ab und versank dann in einem Tümpel aus
schäumendem grauem Schlamm. Seltsam, dass dies das Tor zu den Sundarbans war,
dieses Dickicht aus Bretterbuden und Baracken entlang den Gleisen eines Vorortzuges.
Mit einem Blick über die Schulter erspähte Piya einen Teeverkäufer, der den
Bahnsteig entlangpatrouillierte. Durch das vergitterte Fenster winkte sie ihn
heran. Aus dem chai, den es in ihrer Heimatstadt Seattle gab, hatte sie sich
nie viel gemacht, doch für den milchigen, lange gekochten Tee in den Tontassen
hatte sie in den zehn Tagen, seit sie in Indien war, eine unerwartete Vorliebe
entwickelt. Er war nicht gewürzt und damit mehr nach ihrem Geschmack als der
chai zu Hause.
Nachdem sie bezahlt hatte und den Becher durch die Gitterstäbe manövrierte,
stieß der Mann, der ihr gegenübersaß, beim Umblättern einer Seite gegen ihre
Hand. Geistesgegenwärtig zog sie den Becher so schnell weg, dass der Tee größtenteils
aus dem Fenster schwappte, doch ein dünnes Rinnsal lief über seine Papiere.
"Oh, das tut mir aber Leid!" Piya wäre am liebsten im Erdboden versunken. Von
allen Leuten im Abteil wollte sie am wenigsten diesen Mann mit ihrem Tee verbrühen.
Sie hatte ihn schon auf dem Bahnsteig in Kolkata bemerkt. Seine selbstzufriedene
Kopfhaltung war ihr aufgefallen, die Art, wie er die Menschen ringsum ungeniert
musterte, taxierte, einordnete. Sie hatte auch mitbekommen, mit welch lässiger
Überheblichkeit er seinen Nachbarn von dessen Fensterplatz vertrieben hatte.
Das hatte sie an einige ihrer Verwandten in Kolkata erinnert: Auch sie schienen
- aufgrund der Gesellschaftsschicht, der sie angehören, oder ihrer Bildung?
- besondere Rechte für sich in Anspruch zu nehmen und als selbstverständlich
vorauszusetzen, dass man ihnen die kleinen Hindernisse und Unannehmlichkeiten
des Lebens stets aus dem Weg räumte.
"Hier", sagte Piya und hielt ihm eine Hand voll Papiertücher hin. "Darf ich
Ihnen helfen?"
"Da ist nichts mehr zu machen", erwiderte er gereizt. "Die Seiten sind hin."
Sie zuckte zusammen, als er die Papiere, in denen er gelesen hatte, zerknüllte
und aus dem Fenster warf. "Das war hoffentlich nichts Wichtiges", sagte sie
kleinlaut.
"Nichts Unersetzliches - nur Kopien."
Sie überlegte, ob sie ihn daran erinnern sollte, dass er ja gegen ihre Hand
gestoßen war, begnügte sich dann aber mit einem "Es tut mir so Leid - ich hoffe,
Sie können mir verzeihen".
"Was bleibt mir anderes übrig?" Es klang eher herausfordernd als ironisch. "Bleibt
einem heutzutage überhaupt etwas anderes übrig, wenn man es mit
Amerikanern zu tun hat?"
Piya wollte sich nicht streiten und überhörte diese Bemerkung. Sie sah ihn mit
großen Augen scheinbar bewundernd an und fragte: "Wie haben Sie das erraten?"
"Was?"
"Dass ich Amerikanerin bin. Sie sind ein guter Beobachter ..."
Das schien ihn zu besänftigen. Seine Schultern entspannten sich, und er lehnte
sich zurück.
Ich habe es nicht erraten", sagte er. "Ich wusste es."
"Und woran haben Sie es erkannt? An meinem Akzent?"
"Ja." Er nickte. "Was Akzente betrifft, irre ich mich selten. Ich bin Übersetzer
von Beruf, müssen Sie wissen, und auch Dolmetscher. Ich bilde mir ein, dass
meine Ohren auf die Nuancen gesprochener Sprache geeicht sind."
"Ach, ja?" Sie lächelte, und ihre Zähne leuchteten im dunklen Oval ihres Gesichts.
"Und wie viele Sprachen sprechen Sie?"
"Sechs. Dialekte nicht mitgerechnet."
"Wow!" Diesmal war ihre Bewunderung echt. "Ich spreche nur Englisch - und das
nicht einmal besonders gut, würde ich sagen."
Seine Stirn legte sich in Falten, er wirkte befremdet. "Und Sie wollen nach
Canning?", fragte er.
"Ja."
"Aber erklären Sie mir eins", fuhr er fort. "Wenn Sie weder Bengali noch Hindi
sprechen, wie wollen sie dann dort zurechtkommen?"
"Ich werde das tun, was ich immer tue", antwortete sie lachend. "Ich werde improvisieren.
Bei meiner Arbeit muss man sowieso nicht viel reden."
"Und was für eine Arbeit ist das, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin Cetologin. Das bedeutet ..." Fast entschuldigend setzte sie zu einer
Erklärung an, doch er fiel ihr ins Wort.
"Ich weiß, ich weiß", sagte er barsch, "das brauchen Sie mir nicht zu erklären.
Sie erforschen Meeressäuger, stimmt’s?"
"Ja." Sie nickte. "Sie scheinen sich ja auszukennen. Ich arbeite tatsächlich
über Meeressäuger -
Delfine,
Wale,
Seekühe und so weiter. Manchmal bin ich tagelang auf dem Wasser und habe niemanden,
mit dem ich reden kann - jedenfalls niemanden, der Englisch spricht."
"Dann fahren Sie also beruflich nach Canning?"
"Genau. Ich hoffe, ich kann eine Genehmigung für eine Bestandsaufnahme der Meeressäuger
in den Sundarbans ergattern."
Kanai schwieg jetzt, wenn auch nur kurz. "Das überrascht mich", sagte er dann.
"Ich wusste gar nicht, dass es dort welche gibt." (...)
(Aus "Hunger der Gezeiten" von Amitav Ghosh.
Aus dem
Englischen von Barbara Heller.)
Die Sundarbans in der Bucht von Bengalen - der gigantische Archipel
wird nur geboren, wenn das Wasser fällt: ein unbesiedelbares Land der Ebbe,
zusammengehalten von den graugrünen Wurzeln der Mangroven, beherrscht von Bengalischen
Königstigern. Schon seit Jahrzehnten setzen sich westliche Tierschutzorganisationen
für den Erhalt
der gefährlichen Raubkatzen ein und haben deshalb in den Sundarbans das
"Projekt Tiger" ins Leben gerufen. Auf Kosten der Menschen - so sehen das zumindest
die Bewohner der Inselwelt, die jährlich rund hundert von Tigern gerissene Opfer
zu beklagen haben. Für sie ist jeder, der eine Großkatze erlegt, ein Held.
Die amerikanische Meeresbiologin
Piya ist in diesen gefährlichen Archipel gekommen, um Delfine zu erforschen. Der
Fischer Fokir beeindruckt sie tief durch sein Gespür für das Wasser, denn er
kann sie zu den nur schwer auffindbaren Delfingründen rudern. Während er seine
Krebsnetze auswirft, beobachtet sie die stahlgrauen Tiere - und dabei finden die
beiden zueinander, ohne Worte, denn sie sprechen keine gemeinsame
Sprache.
Vor der prachtvollen Kulisse des undurchdringlichen
Mangrovendschungels in den Sundarbans, einer unwirtlichen, nur von Ebbe und Flut
beherrschten Inselwelt im Osten Indiens, Amitav Ghosh ein spannungsreiches
Dreiecksdrama, in dem alle Farben der Liebe aufscheinen - ihre Schönheit, ihre
Abgründe, ihre Macht. (Blessing)
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