In der Schönborngasse, im achten Wiener Gemeindebezirk, steht ein fünf Stock hohes Haus an der Ecke zur Josefstädterstraße. Das Haus ist schönbrunnergelb gestrichen und unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den Nachbarhäusern, die allesamt aus der Gründerzeit herstammen. Weibliche Köpfe im Halbrelief – es sind die Köpfe von Göttinnen, deren Namen und Treiben bloß in Vergessenheit geraten sind – schmücken den Fries, der oben, oberhalb der letzten Fensterreihe, als zart gerieftes Band um das Gebäude herumläuft, und aus dem Haar dieser Göttinnen entwirren sich Bänder und Girlanden aus Stuck, die in tändelndem Rhythmus, wie materialgewordene Töne einer leichtfüßigen, etwas abgedroschenen Musik, die Hauswände überspielen. An der Ecke zur Josefstädterstraße, etwa in Höhe des Mezzanin, ist als weitere Dekoration ein überdimensionierter Männerkopf mit wallendem Prophetenbart postiert, dessen weise verschlossene Lippen im Zusammenspiel mit den weit geöffneten, aber blind starrenden Augen keinerlei Botschaft verkünden, es sei denn die einer sich selber verlustig gegangenen Seele mit ihrer heiteren, ja glücksversessenen Adaption an das Dasein.
In dem Haus, in einer kleinen Wohnung im vierten Stock, mit Blick auf die Josefstädterstraße, wohnten die beiden Herren Franz Joseph Pandura und Georg Oberkofler. Vor dem Krieg hatte Oberkofler, schon damals Soldat, allerdings beim noch österreichischen Militär, in der Wohnung zusammen mit seiner Frau gelebt. Noch war den anderen Hausparteien erinnerlich, wie der fesche, großgewachsene Oberleutnant, sein blondes, vielleicht ein bißchen grell aufgemachtes Frauchen am Arm, die breiten Treppen hinuntergestiegen und in einen einladenden, vielversprechenden Abend, einen Sommerabend etwa, zeremoniell und förmlich, wie es sich für einen Offizier gehört, aber nicht unelegant hinausgetreten war.
Die Wohnung bestand nur aus zwei großen Zimmern samt Nebenräumen wie Bad und Küche und stellte in dem Haus an der Schönborngasse eigentlich eine Ausnahme dar. Die Wohnungen zählten nämlich in der Regel vier Zimmer oder mehr und waren herrschaftlich.
Es war auf dem Rückzug der deutschen Armeen in der Gegend von Allenstein in Masuren in Polen, also eher schon dem Ende der Schlachtereien des Großen Krieges zu – die kommenden Monate sollten allerdings besonders blutig werden –, daß im Wohntrakt eines Herrengutes, erst kurz zuvor war es von seinen Bewohnern geräumt worden, sich folgendes zutrug: Die Soldaten einer in Auflösung befindlichen deutschen Kompanie entdeckten ein erleuchtetes Fenster in der Nacht. In der Eile der Flucht hatten die Gutsleute wohl vergessen, gerade diese eine und letzte Lampe zu löschen. Die Soldaten brachen mit ein paar Kolbenschlägen das Hoftor auf und drangen ins Haus ein. Im Kamin im großen Salon fanden sich unter einer dünnblättrigen, brüchigen Schicht von grauer Asche – man hatte wohl Papiere verbrannt – noch Knollen von roter, wärmespendender Glut. Bald hatte einer der Männer die Treppe, die zum Vorratskeller hinunterführte, entdeckt. – Als endlich die Nachhut eintraf, angeführt von keinem anderen als dem Oberleutnant Oberkofler, der Pandura, seines Zeichens Stabswachtmeister, war bereits bei der ersten Gruppe dabeigewesen, da fand der Oberkofler seine Leute und also auch den Stabswachtmeister Pandura schon beim Plündern. Zwar hatte der Pandura alle vorgefundenen Fässer durch gezielte Pistolenschüsse zuschanden geschossen, er hatte aber im Durcheinander nicht verhindern können, daß der eine oder andere sein Kochgeschirr oder sonst ein Gefäß unter den kalt und dunkel herauspritschelnden Weinstrahl gehalten hatte. Der Oberkofler machte auch gar kein Aufhebens von der sich anbahnenden Sauferei, er sagte nur in Richtung Pandura, aber so laut, daß alle es hören konnten: »Wer morgen liegen bleibt, wird eben vom Russen erschossen.« Dann warf er seine Handschuhe auf einen Tisch, setzte sich und streckte die Beine breit aus. (...)


aus "Wien Metropolis" von Peter Rosei
Mit den ersten Kriegsheimkehrern beginnt das Buch, mit Schwarzmarkt und verwegenen Existenzgründungen. Wir verfolgen das Leben der Freunde Alfred und Georg von ihren Kinderjahren in einer ärmlichen Klagenfurter Mietskaserne bis zum Studienbeginn in Wien. Leitomeritzky, ein Jude, der im Konzentrationslager war und sich nun zäh zum König des Gebrauchtwagenhandels emporarbeitet – immer mehr Lebensbahnen kreuzen sich in den Häuserlandschaften dieses Romans. Politik, Wirtschaft und Kunst sind mit einprägsamen Figuren vertreten, sie alle zusammen machen das Patchwork aus, das Geschichte und Geschichten aufleuchten läßt. Mit sinnlichen und historischen Details förmlich aufgeladen, reicht es bis in die Ära Kreisky und darüber hinaus. Am Ende ist Georg ein reicher, unzufriedener Geschäftsmann, und Alfreds Spuren haben sich im revolutionären Berlin verloren.
»Wien Metropolis« zeigt – wie in einem Brennspiegel – den Weg der Europäer in eine saturierte, unentschlossene Postmoderne. Wien ist Gegenstand großer literarischer Versuche gewesen. Dieser Roman sucht seine Epoche auf den Punkt zu bringen; er verbindet einen großen Reichtum an Figuren und Lebensentwürfen mit einem Erzählstil, der konzentriert und leicht zugleich ist. Peter Rosei hat mit dieser bedeutenden Geschichte sein zentrales Werk geschrieben.
Peter Rosei, 1946 in Wien geboren, lebt in Wien. Seit Anfang der siebziger Jahre hat Rosei ein großes, umfangreiches literarisches Werk vorgelegt: Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte. (Klett-Cotta)
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