(...) Weil es bald dunkel wurde, schalteten die Autofahrer die Lichter ein. In der einen Richtung waren sie gelb, in der anderen rot. Zwei endlose Glühwürmer, die über den Kontinent krochen, und ich ein Teil davon. Das war die europäische Nacht, und in den Städten und Dörfern jenseits der Autobahn gingen die Lichter an. Der Wind wirbelte dort bestimmt Papiere, Abfälle und die Sehnsüchte der Menschen durch, hob sie hoch und trug sie fort.
Im Radio redete man über Albaner, die an Italiens Adriaküste gestrandet waren. Überfüllte Schiffe. Sie konnten von Glück reden, dass sie nicht unter Wasser geblieben waren, auf halbem Weg ins Leben. Manche davon waren Kinder. Die Italiener nannten sie poveracci und bedauerten sie. Einer meinte, man könne nicht erwarten, dass sie drüben blieben, wenn sie im Fernsehen sähen, wie es hier war. Da würde der dümmste Esel ins Boot steigen. Man sollte ihnen helfen, weil kein Christ bloß zuschauen durfte. Wenn noch mehr von ihnen kämen, müsste man weitersehen.
Dann gab es The Best of Rock und Surfsound. Zwischen den Meldungen über die Albaner und dem Surfsound konnte man etwas gewinnen. Genug, um sich glücklich zu schätzen. Im Rückspiegel schnitt ich Grimassen, schmatzte, sang, pfiff, kicherte und fühlt mich leicht. Vor Wien regnete es, und die Luft kühlte sich ab. Der Wurm war auseinander gefallen. Die Stadt fing ganz plötzlich an, Straßenlampen, eine Brücke, dann U-Bahnstationen. Ich fuhr durch große Wasserlachen mit dem Strom bis zum Gürtel und dem Westbahnhof.
Am Bahnhof erklärte mir einer, dass das Kent ein türkisches Lokal mit gutem Essen sei, in Gehweite und bis nach Mitternacht geöffnet. Ich wechselte Geld, nahm einen Seitenausgang, wo Sexzeitschriften am Boden ausgebreitet verkauft wurden. Ich lief durch den 15. und 16. Bezirk zum Yppenplatz. Die Viertel lagen still da, nur hin und wieder war das Quietschen eines Tors oder eines Fensters zu hören. Es nieselte. Ich drückte die Hände tiefer in die Jackentaschen.
Am Yppenplatz ging ich in ein Wettbüro, um nach dem Weg zu fragen. Die halbe Nacht konnte man wetten. Hier wetten und im Kent essen. Das Licht war kalt, die Türen standen offen. Die Männer sahen nicht aus, als ob sie wetten wollten. Eher war es zu Hause eng geworden, und sie brauchten die Stadt und die Anwesenheit anderer. Ostmänner.
Es war schon immer so gewesen, dass ich den Osten schnell erkannte. An den Kleidern, den Dörfern, den Gesichtern, der Musik, der Natur, an der Melodie der Sprache. Manchmal brauchte ich nur einen Blick, um ihn zu erkennen. Und gar keinen Ton. Es war nicht so, dass ich Tschechoslowaken, Polen, Ungarn, Bulgaren, Ukrainer, Russen, Albaner oder Rumänen immer voneinander unterscheiden konnte. Oft waren die Gesichter ähnlich zerfurcht. Oder die Fuhrwerke ähnlich gebaut. Oder die Schminke der Frauen ähnlich stark. Ich erkannte eher eine Region dank der Formen, der Farben, der Töne und der Bewegungen.
Im Spiellokal wurden auf Monitoren Namen und Zahlen gezeigt. Einige verglichen sie mit jenen auf den Zetteln, die sie in der Hand hielten. Andere tranken an Stehtischen. Der Besitzer zeigte mir auf der Straße mit einer Kopfbewegung den Weg ins Kent.
Das Kent bestand aus einem kleineren Raum zur Straße und einem kärglichen Saal hinten. Ich setzte mich hin und aß hungrig. Später ging ich denselben Weg zurück. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr auf dem Gürtel vorbei an Sexshops und Sexkinos mit oder ohne Videokabinen, Gogo-, Striptease- und Peep-Show-Lokalen. Sie hießen: Manhattan Club, Barhaus 6, Okay Bar Video, Bar Angelique GoGo Girls, Dream Bar, Peep Show 69, Video Kabinen Gero, Pension Claudia.
Frauen aus dem Osten, die es alle wissen wollten. Das sagten die Leuchtreklamen oder die Werbung in den Schaukästen. Dort waren ihre Fotos ausgestellt. Sie grinsten alle, trugen Federboas um den Hals und Stöckelschuhe. Wahrscheinlich waren es Bewerbungsunterlagen, die sie aus der Heimat geschickt hatten. Vielleicht lebten dort die Fotografen davon, dass sie Frauen vor einem dunkelroten Vorhang nackt aufnahmen.
Der Verkehr war flüssig, am Straßenrand gingen Huren auf und ab. Wenn ich kurz anhalten musste, warfen sie mir Blicke zu. Sie trugen Latexkleidung, gewagt, mit Stiefeln, die bis übers Knie gingen. Eine SM-Version des Gestiefelten Katers sozusagen.
Manche taten so, als ob sie das Geschäft gar nichts anginge und sie nur zufällig dort rauf und runter gingen. Aber sie waren allzeit für den Kunden bereit. Manche waren mollig und alt, und unter der Schminke waren die Falten. Sie lehnten an den Autos, die auf dem Gehsteig geparkt waren. Ihr Lachen war mehr ein Grinsen. Jedesmal, wenn eine neue Autokolonne vorbeifuhr, nahmen sie Haltung an. Bei der vorderen Kolonne war das so, bei derjenigen, in welcher ich mitfuhr, und bei jener hinter mir auch, wie ich im Rückspiegel sah. Wenn zwei von ihnen zusammentrafen, wechselten sie einige Worte, behielten immer die Straße im Blick, dann ging jede weiter.
Später bog ich in die Währinger Straße ein, fuhr bis zur Votivkirche am Roosevelt-Platz, bog zweimal um den Häuserblock und parkte den Wagen. Die Pension Votiv, die mir im Kent empfohlen worden war, lag in einer Seitenstraße des Platzes. An der Straße war die Eingangstüre offen. Im vierten Stock war niemand am Empfang. Es roch schlecht, die Möbel waren alt und abgenützt, im Frühstücksraum standen Speisereste und schmutziges Geschirr.
Ich nahm einen Schlüssel, suchte das Zimmer, ging hinein und setzte mich auf den Bettrand. (...)
(Aus "Der kurze Weg nach Hause" von Catalin Dorian Florescu)