(....) Der Bahnsteig in der Metro glich einem breiten Pier, auf dem immer wieder Fahrgäste strandeten, die eigentlich für eine längere Fahrt eingestiegen waren und die aus einem Grund, den sie nicht kannten, ihre Reise unterbrechen mußten. Ströme von Menschen ergossen sich von den Treppen und aus den ankommenden U-Bahn-Zügen, die nicht genügend neue Fahrgäste aufnahmen, bevor sie weiterfuhren, als daß der Bahnsteig leerer geworden wäre. Léna wartete, das unaufhörliche Hin und Her verursachte eine Art Übelkeit bei ihr. Sie hatte sich auf einen der wenigen Sitze gesetzt, die dort verblieben waren wie vereinzelte Überreste einer größeren archäologischen Ausgrabungsstätte. Die Bänke waren schon vor langer Zeit entfernt worden, damit Obdachlose, Clochards und andere Menschen ohne festen Wohnsitz, deren Bezeichnungen sich je nach Epoche änderten, während ihre Lebensumstände gleichblieben, nicht mehr darauf schlafen konnten. Es waren so viele Menschen auf dem Bahnsteig, daß sie nichts mehr sah, also stand sie wieder auf, um in der Menge nach dem Gesicht Ausschau zu halten, auf das sie wartete und das nicht auftauchte.
Irgend etwas geht hier vor, dachte sie, wußte aber nicht, ob dieses Etwas mit ihrem Leben zu tun hatte oder mit einem viel umfassenderen, unbekannten und fernen Lebensbereich, dessen düstere Ausstrahlung aber bis zu ihr reichte.
Die Hektik nahm zu, die Abstände zwischen dem Kommen und Gehen, dem Einsteigen, dem Aussteigen, den U-Bahnen wurden immer größer. Die Schienen glänzten im Regen, aber man konnte nicht bis zur vorausgehenden Haltestelle sehen, sie war zu weit entfernt, und auf der anderen Seite tauchte die Metro in einen dunklen Tunnel ein. Léna sah auf ihre Armbanduhr, zwanzig Minuten wartete sie nun schon, das war noch nie vorgekommen. Zwei Züge warte ich noch ab, dachte sie, wenn er bis dahin nicht gekommen ist, nehme ich den dritten. Der Lautsprecher knisterte, man konnte den Widerhall der Leere hören wie bei Ferngesprächen, wenn es im Telefonhörer knackte, dann war es still (....)


(aus "Im Schatten der Tage" von Cécile Wajsbrot
Originaltitel: "Nation par Barbés"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller)

Liebeskind Verlag 2004
Nach ihrem vielbeachteten deutschen Debüt »Mann und Frau den Mond betrachtend« stellt Cécile Wajsbrot mit ihrem neuen Roman erneut ihr großes Erzähltalent unter Beweis. »Im Schatten der Tage« ist eine berührende Liebesgeschichte und zugleich ein hellsichtiges Portrait unserer Zeit.
Léna und Jason lernen sich in der Pariser Metro kennen. Aus verhaltener Sympathie entsteht rasch Zuneigung, einige Wochen lang treffen sie sich jeden Tag an der Haltestelle Barbès. Für Léna sind diese Treffen Gelegenheit, ihrem bedrückenden Leben für kurze Zeit zu entkommen. Sie leidet unter ihrer despotischen, ans Bett gefesselten Mutter, für die sie aufopferungsvoll sorgt. Eines Tages jedoch kann Jason aufgrund eines Streiks in der Metro nicht wie vorhergesehen zu ihrem Treffen kommen…
Aniela, die aus Osteuropa geflüchtet ist und sich illegal in Paris aufhält, lernt schnell die Schattenseiten der Stadt kennen. Bald schon muß sie sich eingestehen, daß ihr Traum von einem besseren Leben in Paris eine Illusion war. Als sie Jason in der Metro kennenlernt, verliebt sie sich. Durch ihn schöpft sie Hoffnung in einer Welt, in der sie sich ausgegrenzt fühlt. Als sich jedoch die Wege von Aniela und Léna kreuzen, nimmt das Schicksal seinen fatalen Lauf. »Im Schatten der Tage« ist ein einfühlsames Buch über Einsamkeit und Liebe, über Ausgrenzung und Identität, brillant erzählt und von großer Intensität. »Mit diesem Roman zeigt Cécile Wajsbrot, daß sie für die französische Literatur von großer Bedeutung ist.« (L´EXPRESS)
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